»Auch möglich … Ich wollte aber eigentlich sagen, daß sie die zwei Sonnen fliehen, die plötzlich in den Ruinen aufgegangen sind.«
»Zwei Sonnen auf einmal? … Das wäre aber auch eine starke Zumutung für die armen Eulenaugen und möchte selbst einem Feueranbeter zuviel werden!« entgegnete lachend Elisabeth, indem sie mit einer leichten Verbeugung an ihm vorübereilte, denn die Eltern traten eben aus dem Mauerpförtchen und gingen ihr einige Schritt entgegen. Sie waren besorgt heruntergeeilt, als sie Elisabeths Stimme und die eines fremden Mannes gehört hatten, und gaben ihr nun, nachdem sie ihr kleines Abenteuer erzählt hatte, einen sanften Verweis dafür, daß sie so rückhaltlos auf ein Gespräch eingegangen war.
»Deine Neckerei hätte sehr unangenehme Folgen für dich haben können, mein Kind,« sagte die Mutter. »Zum Glück sind es Männer von Bildung gewesen …«
»Männer?« unterbrach sie das junge Mädchen erstaunt. »Es war ja ein einziger.«
»Nun, dann sieh dich um,« sagte der Vater, »dort kannst du sie noch sehen.«
Wirklich tauchten da, wo der Weg anfing, steil abwärts zu laufen, noch zwei helle Herrenhüte auf.
»Da kannst du sehen, Mütterchen,« meinte Elisabeth lachend, »wie wenig verfänglich die Begegnung gewesen ist. Der eine hat sich nicht einmal aus dem Gebüsche heraus getraut, und hinter dem guten, alten Gesichte des anderen steckt sicher auch nicht das Atom einer Banditenseele.«
Oben in ihrem Zimmer nahm sie vorsichtig den Kranz von der Stirn, legte ihn auf einen Teller und stellte beides unter Beethovens Büste. Dann küßte sie den schlafenden Ernst auf die Stirn und sagte den Eltern gute Nacht.
9.
»Holla, Else, lauf nicht so!« schrie der Oberförster, als er am andern Tage, die Büchse über die Schulter geworfen, in der dritten Nachmittagsstunde aus dem Walde trat und quer über die Wiese nach seinem Hause schritt.
Elisabeth flog den Berg herab, den runden Hut am Arme, statt auf den Flechten, die im Sonnenglanze weithin leuchteten, und lief, unten am Hause angekommen, lachend in die Arme des Onkels, die er ihr ausgebreitet entgegenhielt.
Sie steckte die Hand in die Tasche und trat einen Schritt zurück. »Rate einmal, was ich in meiner Tasche habe, Onkel?« sagte sie lächelnd.
»Nun, was wird’s denn sein … Da braucht man sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht ein wenig sentimentales Heu, so einige unter wehmütigen Erinnerungen getrocknete Blümlein? Oder ein Häuflein gedruckten Weltschmerzes zwischen zwei vergoldeten Pappdeckeln?«
»Bedaure … zweimal fehlgeschossen, Herr Oberförster; denn einmal ärgere ich mich ganz und gar nicht über dein Raten, und dann – da, sieh her!«
Sie zog eine kleine Schachtel aus der Tasche und öffnete den Deckel. Da dehnte sich träge auf grünen Blättern eine dicke, zitronengelbe Raupe mit schwarzen Punkten, schrägen bläulichgrünen Streifen und einem gekrümmten Horne am Schwanze.
»Alle Tausendsapperment, Sphynx Atropos!« rief der Oberförster entzückt. »Ja, Blitzmädel, wo hast du denn das Prachtexemplar aufgestöbert?«
»Drüben bei Lindhof auf einem Kartoffelacker … gelt, die ist schön? … So, nun wollen wir die Schachtel hübsch wieder zumachen und einstecken.«
»Was, ich bekomme die Raupe nicht?«
»O ja, die kannst du schon haben, das heißt wenn du sie bezahlen willst.«
»Alle Wetter, bist du denn ein Handelsjude geworden? … Na, da gib sie her … hier sind vier Groschen.«
»Behüte Gott … unter zwölf Groschen thue ich’s nicht. Wird doch manch altes verschimmeltes Pergamentblatt, das man kaum anrühren möchte, so abscheulich sieht es aus, gar manchmal mit Gold aufgewogen – sollte da so ein lebendiges Prachtstück der Natur nicht seine zwölf Groschen wert sein?«
»Altes, verschimmeltes Pergamentblatt, na, das sage einmal vor gelehrten Ohren, da wirst du schön ankommen.«
»Ach, hier im frischen, freien Walde gibt es keine.«
»Nimm dich in acht – Herr von Walde –«
»Steckt in den Pyramiden.«
»Könnte aber plötzlich kommen und gewisse naseweise Fräulein zur Rechenschaft ziehen, ist ein Haupthahn der Gelehrtenwelt.«
»Nun, meinetwegen können sie ihm Denksäulen errichten und Lorbeeren streuen, soviel sie wollen, ich kann es ihm nicht vergeben, daß er über diesem toten Krame die Ansprüche vergißt, die das Leben an ihn zu stellen berechtigt ist, daß er vielleicht nach einem unversehrten Küchenzettel des Lukull oder Gewißheit darüber sucht, ob die Römer in der That ihre Fische mit Sklavenfleisch fütterten, während die Armen auf seinen Gütern hungern und unter der Geißel der Baronin in ein modernes Sklavenjoch getrieben werden.«
»Heisa, dem mag sein linkes Ohr klingen! … Schade, daß er dies Glaubensbekenntnis nicht mit anhören kann … Hier also sind deine zwölf Groschen, wenn’s nicht anders sein soll. Du willst dir doch irgend einen Firlefanz, eine Feder oder solch einen Tand auf deinen Hut dafür kaufen?« sagte er lächelnd.
Sie hielt ihren Hut mit ausgestreckten Armen von sich ab und betrachtete entzückt die zwei frischen Rosen, die sie in das einfach geschlungene schwarze Samtband gesteckt hatte. »Sieht das nicht wunderlieblich aus?« fragte sie. »Und glaubst du, ich werde mein junges Haupt freiwillig unter düstere Federwolken stecken, wenn ich Rosen, frische Rosen haben kann? … Und da ist deine Raupe, und nun sollst du auch wissen, weshalb ich dich gebrandschatzt habe … Heute Morgen war die Frau eines armen Webers aus Lindhof bei meiner Mutter und bat um eine Unterstützung. Ihr Mann ist gestürzt, hat sich Arm und Fuß verletzt und kann seit Wochen nichts verdienen. Die Mutter gab ihr altes Linnen und ein großes Hausbrot; mehr zu geben geht über ihre Kräfte, wie du weißt … Sieh, hier habe ich fünfzehn Groschen aus meinem Sparschatze, mehr war zur Zeit nicht drin – drei desgleichen sind von Ernst, der am liebsten seine Bleisoldaten verkauft hätte, um der armen Frau zu helfen; dazu kommt der Preis für die Raupe, macht zusammen einen ganzen Thaler, und der wird sogleich in das Weberhäuschen getragen.«
»Läßt sich hören … Hier ist noch ein Thaler, und – Sabine,« rief er in das Haus hinein, »hole ein tüchtiges Stück Fleisch aus dem Salzfasse und lege es zwischen zwei grüne Blätter – das nimmst du auch mit,« wandte er sich wieder zu Elisabeth.
»Ach, du lieber, prächtiger Onkel!« jubelte das Mädchen, indem sie seine große Hand zwischen ihre schlanken Finger nahm und sich bemühte, sie beherzt zu drücken.
»Pass’ aber auf,« fuhr er fort, »daß das ehrliche Rindfleisch nicht etwa zu Rosen werde; denn damit wäre der armen Weberfrau wohl schwerlich gedient – gehst ja ähnliche Wege, wie deine heilige Namensschwester.«
»Ja, aber zum Glück habe ich keinen grimmigen Landgrafen zu fürchten … Uebrigens, wenn auch – ich würde ihm trotzdem keine Unwahrheit sagen.«
»Potztausend, was für eine Heldenseele!«
»Nun, ich meine, es gehöre ungleich mehr Mut dazu, eine offenbare Lüge dreist zu sagen, und wenn es zehnmal eine fromme sein sollte.«
»Hast recht, mein Töchterchen – brächt’s auch nicht fertig … Na, da kommt auch die Sabine.«
Die alte Haushälterin trat aus der Thür, und während sie auf des Oberförsters Wink Elisabeth das Fleisch hinreichte, flüsterte sie ihm zu, Herr von Walde, der gestern spät abends von seiner Reise zurückgekehrt sei, warte schon seit einiger Zeit auf ihn.
»Wo?« fragte er.
»Hier unten in der Wohnstube.«
Sie standen aber gerade vor dieser Stube, und die Fenster waren offen.