Hier erhob sich die Baronin Lessen mit einer ungeduldigen Bewegung. Auf ihren blassen, vollen Wangen waren allmählich zwei rote Flecken aufgeblüht, welche für alle, die sie kannten, das Zeichen inneren Zornes waren. Deshalb stand auch Fräulein von Walde, die sich während des ganzen Gesprächs passiv verhalten harte, sofort auf, bot ihrer Kousine den Arm und führte sie ans Fenster, indem sie fragte, ob es ihr wohl genehm sei, wenn sie mit Elisabeth ein wenig musiziere.
Dieser Blitzableiter wurde mit einem Kopfnicken bewilligt, vielleicht hauptsächlich aus dem Grunde, weil die Frau Baronin dem Doktor gegenüber sich doch nicht gewachsen fühlte. Ihre Indignation mußte jedes gemerkt haben, und so war es ja die schöne Musik, durch welche sie sich besänftigen und abhalten ließ, des Doktors himmelschreiende Angriffe gegen ihren Eifer im Dienste des Herrn – sie verteilte ja höchst eigenhändig die Bibeln unter die armen Kinder – zu Boden zu schmettern.
Sie zog sich in eine Fensternische zurück und starrte hinaus in die Gegend, aus die sich die ersten, leichten Schatten der hereindämmernden Nacht legten. Ihr Blick zeigte einen kaltgrausamen Ausdruck, wie er jener gewissen Art wasserblauer, hellbewimperter Augen so leicht innewohnen kann. Eine tiefe Falte lagerte um die Mundwinkel, ein Zeuge tiefen Grolles, der auch nicht verschwand, als Schuberts Erlkönig, zu vier Händen und meisterhaft von den beiden Damen vorgetragen, in dämonischer Gewalt erbrauste. An dieser Brust verhallten ungefühlt die Töne, wie der Wellengesang am Uferfelsen.
Als der letzte Akkord verklungen war, erhoben sich die beiden Damen, und der Doktor, der regungslos zugehört hatte, eilte auf sie zu. Sein Auge glänzte; er dankte begeistert für den Genuß, der ihm, wie er versicherte, seit vielen Jahren nicht zu teil geworden sei … Hier wurde Fräulein von Lehrs Gesicht dunkelrot, und die Mama schoß einen wahren Giftblick nach dem unglücklichen Enthusiasten … Hatte nicht die Tochter im vergangenen Winter zum Besten mildthätiger Zwecke mehrere Male öffentlich in L. gespielt, und war er nicht in jedem Konzerte zugegen gewesen? … Der Doktor schien übrigens gar nicht zu bemerken, welches Gewitter sich hinter seinem Rücken auftürmte. Er sprach eingehend über Schuberts herrliche Tonschöpfung, wobei er ein feines Urteil und den gründlich gebildeten Musikverständigen verriet.
Plötzlich wurde mit hartem Anschlage ein voller Akkord auf dem Flügel gegriffen – es war, als ob knöcherne Finger auf die Tasten schlügen. Erschrocken drehten sich die Plaudernden um. Der Kandidat saß am Klavier mit hochgehobenem Kopfe und ausgedehnten Nasenflügeln und ließ eben wieder beide Hände zu einem zweien schrillenden Akkorde auf die Tasten fallen. Er begann einen schönen Choral, der aber durch das schauderhafte Spiel zu einer wahren Marter für feingebildete Ohren wurde. Das hätte sich am Ende noch überstehen lassen; aber nun fiel er zu Elisabeths Verzweiflung auch noch mit einer abscheulich näselnden Stimme ein. – Das war zu viel. Der Doktor griff nach seinem Hute und verbeugte sich abschiednehmend vor Helene und der Baronin. Die letztere bog ihr Gesicht nach dem Fenster und bewegte nachlässig ihre Hand als Zeichen der Entlassung.
Ein unvergleichlicher Ausdruck von Humor überflog die Züge des Doktors. Er drückte Elisabeths Hand herzlich beim Scheiden und empfahl sich dann mit einer höflichen Verbeugung bei den übrigen.
Sobald sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, erhob sich die Baronin und trat aufgeregt zu Helene, die sich still in einer Sofaecke niedergelassen hatte.
»Unerträglich!« rief sie, und ihre scharfe Stimme klang gedämpft, als ob ihr der innere Grimm den Hals zusammenschnüre, während sie ihr stechendes Auge fest auf das junge Mädchen heftete, das fast schüchtern und beklommen den Blick zu ihr erhob. »Und du duldest es so widerstandslos, Helene,« fuhr sie fort, »daß man in deinen Zimmern unsere Standesvorrechte, unsere Frauenwürde, ja, das Heiligste, was wir treulich behüten und pflegen, mit Füßen tritt?«
»Aber, liebe Amalie, ich sehe nicht ein –«
»Du willst nicht einsehen, Kind, in deiner unerschöpflichen Geduld und Langmut, daß dieser Doktor mich beleidigt, wo er kann. Nun, ich muß mir das gefallen lassen, weil es nicht in meinem Hause geschieht, und weil ich als gute Christin lieber dulde und Unrecht leide, als daß ich die unziemlichen Waffen der Wiedervergeltung in die Hand nehmen möchte … Diese Duldsamkeit jedoch findet ihr Ende, sobald unser Herr in seinen göttlichen Rechten angegriffen wird. Hier sollen wir kämpfen und streiten und nicht ermüden … Ist es nicht wahrhaft gotteslästerlich, daß diesem Mensch sans façon seinen Hut nimmt und mit großem Geräusche das Zimmer verläßt, während unsere Seelen durch den erhabensten Gedanken der Musik, durch den Choral, tief bewegt sind?«
Sie war immer lauter und heftiger geworden und bedachte nicht, daß sie in diesem Augenblicke ein sanftes, sämtliche Töne einer ganzen Oktave berührendes Hinaufschleifen des unermüdlich weitersingenden Kandidaten völlig wirkungslos machte.
»Ach, das mußt du dem Doktor nicht so übel nehmen,« sagte Fräulein von Walde. »Er ist an seine Zeit gebunden, hat vielleicht noch einen Krankenbesuch in L. zu machen und wollte ja eigentlich schon aufbrechen, ehe wir zu spielen anfingen.«
»Indes der heidnische Spuk des Erlkönigs ließ diesen vortrefflichen Mann seine Patienten vergessen,« unterbrach sie die Baronin höhnisch. »Nun, ich bescheide mich … Es liegt leider in unserer traurigen Zeit, daß die Vertreter des Unglaubens die herrschenden werden.«
»Aber, mein Gott, Amalie, was willst du denn, daß ich thun soll? Du weißt ja nur zu gut, daß Fels mir unentbehrlich ist … er ist der erste und einzige Arzt, der meine körperlichen Leiden zu lindern versteht!« rief Helene, und ihr Auge schimmerte feucht, während die Röte der Aufregung in ihre blassen Wangen stieg.
»Ich dächte, mein Fräulein,« begann hier Frau von Lehr, die bis dahin schweigend und lauernd wie eine Spinne in einer Ecke gesessen hatte, langsam und feierlich, »vor allem müsse wohl das Seelenheil berücksichtigt werden; die Sorge für das körperliche Wohl kommt meiner Ansicht nach erst in zweiter Linie … Im übrigen hat L. noch mehr vortreffliche Aerzte aufzuweisen, die es getrost mit der Gelehrsamkeit des Herrn Doktor Fels aufnehmen können … Glauben Sie mir, liebes Fräulein, es berührt die Gläubigen in unserem guten L. oft schmerzlich, wenn sie sehen müssen, wie ihr offenkundiger Widersacher als Freund und Ratgeber in Ihrem Hause aus und ein gehen darf.«
»Wenn ich auch das Opfer bringen wollte, einen anderen Arzt zu nehmen,« entgegnete Helene, »so dürfte ich doch ohne die Einwilligung meines Bruders diesen Schritt nicht thun. Da aber würde ich auf den heftigsten Widerstand stoßen – ich weiß es – denn Rudolf hält sehr viel auf den Doktor und schenkt ihm sein unbedingtes Vertrauen.«
»Ja, Gott sei’s geklagt!« rief die Baronin. »Das ist auch so eine schwache Seite in Rudolfs Charakter, die ich nie habe begreifen können! … Mit diesem sogenannten Freimute, den man am besten mit Frechheit übersetzen könnte, imponiert ihm der Herr Fels … Nun, ich wasche meine Hände, werde mir aber künftig die Besuche des Herrn Doktors verbitten und halte mich bei dir, liebe Helene, für die Zeit stets entschuldigt, wenn du ihn bei dir siehst.«
Fräulein von Walde erwiderte kein Wort. Sie erhob sich, während ihr getrübtes Auge durch das Zimmer glitt, als vermisse sie etwas; es schien Elisabeth, als gelte dieser suchende Blick Herrn von Hollfeld, der vor einer Weile unbemerkt das Zimmer verlassen hatte.
Die Baronin griff nach ihrer Spitzenumhüllung, und auch Frau von Lehr nebst Tochter rüsteten sich zum Aufbruche. Beide sagten dem Kandidaten, der seinen Vortrag geendet hatte und nun, verlegen seine Hände reibend, am Flügel stand, noch einige Liebenswürdigkeiten und verabschiedeten sich dann in Begleitung der Baronin von Helene, die ihnen mit erschöpfter Stimme gute Nacht sagte.
Als Elisabeth die Treppe hinunterstieg, sah sie Herrn von Hollfeld in einem gegenüberliegenden, nur schwach beleuchteten Korridor stehen. Er hatte droben während des Zornergusses seiner Mutter in einem Album geblättert und sich mit keinem Worte in die leidenschaftlichen Verhandlungen gemischt. Das war Elisabeth ganz abscheulich vorgekommen; sie hatte lebhaft gewünscht, er möge zu Helene stehen und dem Treiben der Baronin durch ein männlich