»Der Zufall wollte es so, dass er auch Behrend heißt, Binchen.«
»Was ist Zufall, Anschi?«
»Zum Beispiel, dass manche Menschen den gleichen Namen haben«, antwortete Anschi.
Sabine legte ihre Wange auf Anschis Hand.
»Bambi hat gesagt, dass mich Tante Ruth auch zu ihm geschickt haben könnte. Stimmt das?«
»Es hätte sein können«, erwiderte Anschi zögernd, um der Wahrheit nicht ganz aus dem Weg zu gehen.
»Bambi ist noch viel kleiner als ich und schon mächtig gescheit, aber ganz dumm bin ich auch nicht. Warum hat Tante Ruth gesagt, dass ich zu meinem Vater komme?«
»Weil sie gemeint hat, dass Stefan dein Vater ist, Binchen«, erklärte Anschi nach kurzem Überlegen. »Dein Vater hieß auch Stefan Behrend. Es gibt solche Zufälle.«
Sabine vergrub ihren Kopf in den Kissen.
»Warum hast du mich dann nicht weggeschickt, wenn es bloß ein Zufall war?«, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Weil wir dich lieb haben, und daran wird sich nichts mehr ändern.«
»Aber mein Vater will mich nicht haben!«, schluchzte Sabine.
»Er ist tot. Er hätte dich genauso lieb wie wir«, sagte Anschi leise. »Ja, ganz gewiss hätte er dich lieb.«
»Und der Opa?«
Anschi hielt den Atem an. Sie sah Otto Behrend wieder vor sich, wie er sich vor ihr verbeugte.
»Der Opa will, dass du keinen Kummer und keine Angst hast«, erwiderte sie gedankenvoll.
»Ist er deshalb weggefahren?«
»Ja, deshalb.«
Anschi raffte sich auf.
»Jetzt genug davon, Binchen. Es ist schon spät.«
»Und Stefan wird ärgerlich, wenn du so lange bei mir sitzt. Das verstehe ich. Ich kann dich ja den ganzen Tag sehen.«
*
Dr. Rückert hatte mittags nur wenig Zeit für Otto Behrend gehabt, aber er hatte ihm ein hübsches Zimmer in einer kleinen Privatpension vermittelt, die am Stadtrand gelegen war, und ihm versprochen, ihn dort abends aufzusuchen. Bis dahin hatte Otto Behrend genügend Zeit, sich mit dem Inhalt der Tasche zu beschäftigen.
Es waren bittere Stunden für ihn, vor allem als er jenen Brief las, der an Erika zurückgeschickt worden war mit dem Vermerk: »Adressat verstorben«. Denn in diesem Brief hatte sie seinem Sohn mitgeteilt, dass sie ein Kind erwarte.
Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Briefe für Stefan gekommen waren. Seine Mutter musste die Annahme verweigert haben, und jetzt blieb ihm die schmerzliche Erkenntnis, dass sie auch nach Stefans Tod noch eifersüchtig auf jeden gewesen war, der ihrem Sohn etwas bedeutet hatte.
Es waren da auch noch zwei Briefe, die Erika an ihre Schwester Ruth geschrieben hatte, als sie schon krank war, und in denen sie Ruth bat, sich des Kindes anzunehmen.
Ich habe für das Kind so gut vorgesorgt, wie es nur möglich war, hatte sie darin geschrieben, aber Deinen Vorschlag, mich an Stefans Angehörige zu wenden, lehne ich ab. Ich will nicht riskieren, dass man mich auch noch von der Schwelle weist oder gar wegzureden versucht, dass es sein Kind ist. Nach meinem Tod wird Sabine eine Versicherungssumme erhalten, und ich setze alle Hoffnung darauf, dass Du sie gut für das Kind verwaltest.
Sie hatte gewusst, dass sie sterben würde, sie hatte für ihr Kind gesorgt. Aber Otto Behrend dachte jetzt nicht daran, wo dieses Geld wohl geblieben war, er dachte nur daran, dass er Sabine schon lange Jahre bei sich hätte haben können.
Er gewann auch eine weitere Erkenntnis aus diesem Geschehen. Er fand es jetzt verständlich, dass man ihm voller Abwehr begegnet war und keinen liebevollen Großvater in ihm sehen konnte.
Es war jetzt an ihm, nur an ihm, die Gegensätze auszuräumen und einen Weg zu suchen, um Sabines Zuneigung doch noch zu erringen.
*
Mit dem schönen Frühlingswetter schien es erst einmal vorbei zu sein.
Regnerische Tage kamen, an denen die Kinder draußen nicht herumlaufen konnten. Sabine und Bambi sahen sich nicht.
Anschi vermied es ebenso wie ihre Eltern, über Otto Behrend zu sprechen. Das Kind gehörte ganz zur Familie, daran hatte sich auch Stefan gewöhnt, und es machte ihn sogar froh, wenn Sabine auf ihn wartete.
Norma und Herbert mussten wieder, wenn auch schweren Herzens, an die Heimreise denken. Allzu lange konnten sie ihr Haus und Herbert seine Geschäfte nicht im Stich lassen.
Vorher aber fand noch die Einladung bei Münsters statt, die man wegen der Ereignisse aufgeschoben hatte.
Anschi war es doch ein wenig flau, als sie das herrliche Haus auf dem Sonnenhügel betrat. Schließlich war Felix Münster der Chef ihres Mannes, und insgeheim machte sie sich Sorgen, wie man Sabine aufnehmen würde.
Doch solche Sorgen waren überflüssig. Der siebenjährige Manuel kannte Sabine schon als das »Mädchen, das bei den Behrends auf Besuch war«. Anders wusste er es nicht.
Sabine beschäftigte sich gleich mit den entzückenden Zwillingen, die auch Anschi hingerissen betrachtete.
Sandra Münster war eine ebenso aufmerksame wie charmante Gastgeberin. Ganz unbefangen erzählte sie von ihrem Großvater Albrecht von Rieding, der ihr und ihrer Mutter den ganzen Besitz vererbt hatte, obgleich er mit der Heirat seines Sohnes mit einer Bürgerlichen nicht einverstanden gewesen war.
»Damals herrschten noch strenge Sitten«, bemerkte sie lächelnd, »und ob er damit einverstanden wäre, was wir aus Erlenried gemacht haben, wage ich zu bezweifeln. Jedenfalls sind viele Menschen hier glücklich geworden, und das ist ein schönes Gefühl.«
Dass sie selbst restlos glücklich war, sah man ihr an. Niemand in dieser Runde ahnte, dass Felix Münster einstmals als verbitterter, freudloser Mann hier seinen Wohnsitz genommen hatte, um dann nach einer ersten, glücklosen Ehe das große Glück mit Sandra zu finden.
Davon, dass Manuel sein Sohn aus dieser ersten Ehe war, wurde nicht gesprochen.
Niemand hätte es vermutet, der beobachten konnte, mit welch zärtlicher Liebe er an Sandra hing.
Die Zwillinge waren so brav, dass es Sandra ganz unheimlich wurde. Aber als sie nach dem Rechten sah, fand sie die beiden mit Sabine auf dem weichen Teppich sitzen, während Manuel eine Vorstellung des Kasperltheaters gab. In jedem Arm hatte Sabine eines der beiden Kleinen, die sich an sie schmiegten und aufmerksam den Späßen des Kasperls Larifari folgten, dem Manuel seine verstellte Stimme gab.
Sandra machte sich gar nicht bemerkbar.
»Sabine gibt ein gutes Kindermädchen ab«, meinte sie lächelnd, als sie sich wieder zu den anderen setzte.
»Sie ist schon sehr vernünftig«, sagte Anschi.
Sandra gab sich nun doch einen Ruck.
»Sie sind entschlossen, sie zu behalten?«, fragte sie.
»Ja, selbstverständlich«, erklärte Anschi.
»So selbstverständlich ist das nun auch wieder nicht«, entgegnete Sandra. »Aber für das Kind ist es wohl ein Glück. Offen gestanden wüsste ich nicht, was ich an Ihrer Stelle getan hätte.«
»Du hättest dich bestimmt nicht anders verhalten«, warf Felix Münster ein.
»Na, ich weiß nicht«, sagte Sandra. »Und wie ich dich kenne, wärst du auch ganz schön aufgebracht gewesen. Ist Ihnen das Thema unangenehm, Frau Behrend?«, erkundigte sie sich.
»Nein, gar nicht. Natürlich war ich auch erschrocken,