Und nun wusste dieser Dr. Allard auch noch, dass Walter den Jungen verletzt hatte. Wenn Bertold nun die Polizei alarmierte?
Sie saß da und grübelte. Mitternacht war schon vorbei, als sie sich endlich zu einem Entschluss durchgerungen hatte, der ihr gewiss nicht leichtfiel.
*
Genau Mitternacht war es auch, als Dr. Allard Bertold Busch in seiner Wohnung erreichte.
Eine schläfrige Stimme meldete sich. Es dauerte einige Zeit, bis seinem unbekanntem Gesprächspartner klar wurde, worum es ging.
»Mein Junge? Sie sagten, mein Junge sei krank?«, dröhnte es dann durch den Draht. »Himmelherrgott, warum hat mich dieses elende Weib nicht benachrichtigt?«
Glücklicherweise schaltete er dann aber doch so schnell, dass Nicolas sich nicht mit langatmigen Erklärungen aufhalten musste.
Berthold Busch versprach, dass er sich sofort auf den Weg machen und am Morgen in der Sternseeklinik sein würde.
»Das hätten wir also«, sagte Dr. Allard zu Ursula. »Nun bin ich wirklich gespannt, wie es weitergeht.«
Sie dachte jetzt nur an diesen armen kleinen Jungen, der wohl genauso unter Walter Pohl gelitten hatte wie sie auch.
»Ich werde mich zusammennehmen«, versicherte sie.
»Sie werden morgen früh abgelöst. Wir werden Sie heraushalten, Ursula. Dr. Fernand wird die Nacht über hierbleiben, sodass Sie nicht allein sind.«
»Ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, Herr Doktor«, äußerte Ursula beklommen. »Ich war so froh, diese Stellung zu bekommen.«
»Und das ist wohl auch das Positive dieser Geschichte. Kopf hoch, Ursula!«
Stille herrschte in der Klinik. Dr. Fernand war noch eine Zeit bei Oliver geblieben, aber nun schlief der Junge.
Ursula machte gewissenhaft ihre Eintragungen in die Krankenblätter, und sie wunderte sich, dass es ihr gelang, sich ganz darauf zu konzentrieren.
Dann setzte sich Dr. Fernand eine Weile zu ihr. Er stellte keine Fragen. Er unterhielt sie in seiner charmanten Art mit Begebenheiten aus seinem Leben, und weil er so leicht und beschwingt dahinredete, wurde es Ursula erst später bewusst, dass alles in irgendeiner Beziehung auf ihre eigene Situation gemünzt war.
Heiße Dankbarkeit erfüllte sie, wie sehr alle bemüht waren, ihr Zuversicht zu geben und Brücken zu bauen.
Dann begann Dr. Fernand auch von dem Entstehen der Sternseeklinik zu sprechen, von den Erlebnissen und Schicksalen in diesem Haus, und auch von seiner Verlobten Aimée sprach er.
»Wenn jetzt Ruhe eingekehrt ist, nehme ich Sie mit ins Margaretenheim«, sagte er. »Dann werden Sie auch Aimée kennenlernen, und Frau Pahl wird sich über Ihren Besuch freuen. Was meinen Sie, was diese Frau alles erlebt hat. Jedes Leben hat seine Tief- und Höhepunkte, Schwester Ursula. Und nach jeder Nacht beginnt ein neuer Tag.«
Der graute bereits, als sie zum Fenster hinausblickte.
Sie machte noch einmal die Runde. Alles war ruhig. Dagmar schlief mit ihrem Hündchen im Arm, und das Bilderbuch lag neben ihr.
Du wirst nie erfahren, wer dein Vater ist, dachte Ursula. Dir soll es erspart bleiben.
*
Punkt sieben Uhr erschienen Selma und Dorle.
»Nun marsch ins Bett«, sagte Schwester Selma gutmütig zu Ursula.
Aber als sie sah, wie Ursula durch den Park ging, machte sie sich ihre Gedanken und war darauf bedacht, dass Dorle es nicht auch zur Kenntnis nahm.
Als Ursula das Tor erreicht hatte, hörte sie schon Hartmuts Wagen nahen. Sie kannte das Geräusch ganz genau.
Als er ausstieg, fielen alle Hemmungen von ihr ab.
Sie lief auf ihn zu und ließ sich in die Arme nehmen. Zärtlich streichelte er ihre Wangen.
»Was kann ich für dich tun, Ursula?«, fragte er.
»Dr. Allard weiß jetzt alles«, erwiderte sie bebend. »Es ist gut zu wissen, dass es dich gibt, Hartmut. Ich habe keine Angst mehr. Ich habe mich nur fragen müssen, warum dies sein musste.«
»Alles im Leben hat seinen Sinn«, bemerkte er, »das Gute und auch das Böse. Man kann daran wachsen oder daran zerbrechen. Du zerbrichst nicht. Die Zeit der Resignation ist jetzt für uns beide vorbei.«
Er küsste sie innig und blickte ihr dann tief in die Augen.
»Willst du meine Frau werden, Ursula? Wollen wir gemeinsam ein neues Leben beginnen?«
»Wenn du mich haben willst, so, wie ich bin?«, sagte sie scheu.
»So, wie du bist und nicht ein bisschen anders«, erwiderte er.
Seine Worte klangen in ihr nach, und sie fühlte, dass es nun auch für sie ein Glück geben würde, wie sie es kaum zu träumen gewagt hatte.
»Ich habe noch eine Viertelstunde Zeit. Lass uns diesen neuen Morgen noch ein bisschen genießen, mein Liebes«, schlug Hartmut vor.
»Und Maxi ist allein«, flüsterte sie.
»Er schläft. Das Frühstück habe ich ihm hingestellt. Was meinst du, was es für ihn bedeuten wird, wenn ihr bei uns seid.«
Was konnte ihr jetzt noch geschehen? Keine Angst, kein Zweifel bewegten sie mehr.
*
Walter Pohl war mit schwerem Kopf erwacht. Er hatte einen schalen Geschmack im Mund, und seine Augen brannten. Er vernahm klappernde Geräusche und erhob sich mühsam. Was war eigentlich gestern geschehen? Nur langsam kam ihm die Erinnerung.
Lucia war nicht noch einmal zu ihm gekommen. Oder hatte er da schon geschlafen?
Doch, sie war bei ihm gewesen, erinnerte er sich schwach. Sie hatte irgendetwas von Dr. Allard erzählt.
Er sah die halbgeleerte Whiskyflasche auf dem Tisch stehen. Ich muss ganz schön benebelt gewesen sein, dachte er.
Der Junge hatte ihn wieder einmal fuchsteufelswild gemacht. Dieser aufsässige kleine Kerl! Lucia sollte ihn doch endlich abschieben.
Aber war es nicht besser, sich auch von ihr zu trennen? Janus! Richtig, heute wollte ja Janus kommen.
Wenn das Geschäft mit ihm nicht klappte, konnte er Lucia nicht verschweigen, dass er wieder mal falsch spekuliert hatte.
Sie war immer wieder seine Rettung gewesen. Die einzige Frau, deren Geldquelle nicht versiegte.
Dafür hatte er manches in Kauf genommen, ihre Launen und auch ihren Sohn. So schnell konnte er sie nicht abschieben.
Er ging schwankend zu ihrem Appartement hinüber. Er musste noch mit ihr sprechen, bevor Janus kam. Sie durfte sich durch die augenblickliche Lage nicht dazu hinreißen lassen, Janus vor den Kopf zu stoßen.
Ein Glück war es nur, dass sie das Geld auch mehr liebte als ihren Sohn und dass sie am Ende doch immer tat, was er von ihr verlangte.
Doch seine Augen weiteten sich, als er Lucias Appartement leer fand. Ihre Toilettenartikel standen auch nicht mehr im Bad.
Ein heftiger Schreck durchzuckte ihn, als er zum Fenster hinausschaute und auch die Box leer stand, in der der Wagen untergestellt war.
In fliegender Hast wusch er sich und kleidete sich an. Es war erst ein Viertel nach sieben Uhr, und er fand nur Fränzi Großmann im Frühstückszimmer vor, die noch dabei war, die Tische zu decken.
»Wo ist meine Frau?«, herrschte er sie an, und er meinte, ein spöttisches Funkeln in ihren Augen zu sehen.
»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Sie scheint ziemlich früh weggefahren zu sein.«
»Wie früh?«
»Das weiß ich nicht. Wir pflegen