Melanie nickte zustimmend und folgte ihm in sein Zimmer.
Er hielt sich nicht lange bei der Vorrede auf.
»Ich kenne Ihre Konflikte«, begann er. »Und Schwester Ursula ist bemüht, Ihnen gerecht zu werden. Sie weiß sehr wohl zu schätzen, was Sie für Dagmar getan haben. Sie werden sicher Verständnis dafür haben, dass Sie Ihnen das Kind nicht aus Dankbarkeit überlassen kann.«
»Ich würde mich damit abfinden, wenn das Kind nichts entbehren müsste«, entgegnete Melanie leise. »Selbstverständlich würden wir Ursula finanziell unterstützen, aber sie hat doch kaum Zeit für das Kind. Darin liegt doch die größte Schwierigkeit.«
»Anderen Müttern ergeht es ähnlich. Wir werden eine Möglichkeit finden, Schwester Ursula bei der Lösung all dieser Probleme behilflich zu sein.«
»Aber es gibt keine Möglichkeit, mir zu einem Kind zu verhelfen«, schluchzte Melanie auf.
»Resignation ist der am schwerwiegendste Hinderungsgrund«, bemerkte Dr. Allard. »Werfen Sie Ihre Angst einmal über Bord, Frau Siemon.«
Sie unterhielten sich noch ziemlich lange, und als Melanie dann die Sternseeklinik verließ, war sie nicht mehr so verkrampft.
»Na, hat der Psychologe Erfolg gehabt?«, fragte Dr. Fernand neckend.
»Vielleicht auch der Mediziner«, erwiderte Nicolas Allard. »Vielleicht brachte Ursula ihr das Kind genau zum falschen Zeitpunkt. Sie resignierte, weil keine Behandlung schnellen Erfolg versprach, und als sie dann Dagmar hatte, konzentrierte sie sich ganz auf dieses Kind. Na, wir werden sehen, ob sie von ihren Komplexen zu befreien ist.«
*
Maxis Genesung machte rasche Fortschritte, seit er wieder richtig essen konnte.
Er entwickelte einen gesunden Appetit. Er wollte bald wieder zu seinem Papi.
Allerdings betrübte ihn der Gedanke, dass er sich dann von Ursula trennen musste.
»Darf ich dich besuchen?«, fragte er sie.
»Jetzt bist du ja noch hier«, erwiderte sie lächelnd.
»Aber nächste Woche darf ich heim, hat Dr. Allard gesagt. Wirst du uns auch mal besuchen, Schwester Ursula? Oder hast du nie Zeit?«
Da kam Hartmut Raimund.
»Ich habe Schwester Ursula gerade gesagt, dass sie uns auch mal besuchen soll, Papi«, verkündete Maxi sogleich.
»Ich würde mich freuen«, erklärte Hartmut. »Wie geht es Ihrer kleinen Tochter?«
Er erkundigte sich jedes Mal nach Dagmars Befinden, und er freute sich, als Ursula ihm heute sagen konnte, dass es jetzt auch mit ihr aufwärts ginge.
»Du bist ja schon wieder ganz gut beisammen«, bemerkte er, als Maxi sich aufsetzte und die Beine aus dem Bett baumeln ließ.
»Morgen darf ich schon ein bisschen aufstehen und herumgehen. Waschen kann ich mich schon wieder allein«, erzählte Maxi voller Stolz.
»Er ist ein ganz braver Patient«, meinte Ursula lächelnd. »Und tüchtigen Appetit hat er auch schon.«
»Ich habe ihm Streuselkuchen mitgebracht. Darf er den essen?«, fragte Hartmut.
»Papi backt ihn selber. Der ist prima«, verriet Maxi. »Den musst du mal probieren, Schwester Ursula.«
Hartmut errötete unwillkürlich, als sie ihn so überraschend anblickte. Er backte sogar Kuchen. Sie konnte nur noch staunen.
»Es macht gar keine Mühe«, sagte er leise.
»Papi kann alles«, behauptete Maxi. »Da, probier mal. Ist der nicht gut?«
Ursula konnte schlecht nein sagen, und sie erklärte zu Maxis Freude, dass sie einen so guten Streuselkuchen noch nie gegessen hätte, was auch der Wahrheit entsprach.
»Kochen kann Papi auch so gut«, fuhr Maxi fort. »Und auch Marmelade kochen.«
»Sie sind ja ein Universalgenie«, bemerkte Ursula. Und einem solchen Mann läuft die Frau davon, dachte sie. Es war ihr unbegreiflich.
Aber sie hatte Hanna Raimund ja nicht gekannt. Diese hatte sich mit dem einfachen Leben auf dem Lande nicht zufriedengegeben. Sie wollte Abwechslung haben, tanzen gehen, ins Kino und das Leben genießen.
Sie hatte ihrem Mann nicht verziehen, dass er Dorfschullehrer geworden war und sich damit beschied. Sie hatte nicht begriffen, dass dieser stille Mann in einer lauten Stadt nicht existieren konnte.
»Du musst mich nicht so loben, Maxi«, sagte Hartmut zu seinem Sohn, als Ursula das Krankenzimmer verlassen hatte.
»Warum denn nicht, wenn es doch stimmt.« Maxi hatte diesbezüglich keine Hemmungen.
»Mir ist das aber peinlich.«
*
»Wenn der Herr Raimund nicht gar so schüchtern wäre, würde er mir schon gefallen«, sagte Schwester Dorle gerade zu Schwester Selma, als Ursula das Schwesternzimmer betrat.
Schwester Selma lachte.
»Da hättest du aber keine Chance. Er hat die Nase voll, das kannst du mir glauben, Mädchen.«
»Kannten Sie seine Frau?«, fragte Ursula.
»Das will ich wohl meinen. Ich bin doch aus dem Dorf. Sie war ein hübsches Ding, als sie vor fünf Jahren herkamen. Aber das war auch alles. Damals hat er auch schon den ganzen Haushalt geschmissen. Es zahlt sich nicht aus, wenn die Männer ihre Frauen so verwöhnen. Da kommen sie bloß auf dumme Gedanken. Er kann froh ein, dass er sie los ist.«
Schwester Dorle entschwand. Anscheinend wollte Sie auf einen Plausch mit Herrn Raimund nicht verzichten.
»Es gibt ja auch Frauen, die kein Glück mit Männern haben«, bemerkte Schwester Selma mit einem bedeutungsvollen Blick zu Ursula. Diese fühlte sich auch angesprochen.
»Manchmal sind diese Frauen auch selbst schuld«, entgegnete sie leise, »weil sie zu vertrauensselig sind.«
»Was glauben Sie wohl, warum ich ledig geblieben bin, Ursula«, sagte Schwester Selma. »Ich bin auch hereingefallen. Und manchmal habe ich bereut, dass ich nicht wenigstens ein Kind hatte.«
Ein erstaunter Blick traf sie.
»Für das Kind ist das nicht so einfach«, meinte Ursula leise.
»Ach was! In der heutigen Zeit ist das doch nicht mehr schlimm. Wenn man alt ist und niemanden hat, fragt man sich, wozu man eigentlich gelebt hat«
»Sie brauchen sich das doch nicht zu fragen. Sie werden benötigt, Sie haben viele Kinder, Selma.«
»Das haben Sie hübsch gesagt. Ich bin auch froh darüber, dass ich zu was nütze bin. Ich will ja nicht aufdringlich sein, Ursula, aber ich habe mir so gedacht, wenn wir beide für Dagmar sorgen könnten, dann ginge es doch eigentlich ganz gut. Wenn noch eine Schwester kommt, könnten wir uns mit dem Dienst ablösen. Ich habe ein kleines Häuschen im Dorf, mit einem schönen Garten, und mit Dagmar würde ich mich schon anfreunden.«
Ursula umarmte die Ältere impulsiv.
»Sie sind lieb, Selma«, sagte sie dankbar.
»Ich könnte doch Ihre Mutter sein, Ursula«, brummte Schwester Selma. »Lassen Sie es sich mal durch den Kopf gehen. Für mich wäre es doch auch sehr schön. Gut, ich habe hier viele Kinder, aber sie kommen und gehen, und keins kann man so richtig lieb haben.«
Und in ein paar Jahren wird sie nicht mehr so herumflitzen können, ging es Ursula durch den Sinn. Dann würde sie einsam sein. Und ihr selbst würde es nicht anders ergehen, wenn sie Dagmar nicht hätte.
»Ich weiß nicht, womit ich das verdiene«, bemerkte sie leise, aber Schwester Selma fiel ihr gleich ins Wort.
»Papperlapapp!