»Bestimmt.«
Sid angelte seinen verbeulten Pod aus der Tasche und richtete ihn auf das Startfeld. Ein Modell aus den späten Zwanzigern, aber der ganze Stolz des Jungen. Sid hatte es eigenhändig in der Werkstatt des Shelters repariert, hatte von irgendwoher die Ersatzteile aufgetrieben, die es eigentlich längst nicht mehr gab. Der Junge rief die Teleskopfunktion auf, zoomte die Astronauten heran.
Die Punkte wurden größer, aber pixeliger. Nichts zu erkennen, fand Marshall. Sid schien es nicht zu kümmern. Er filmte die Punkte und murmelte dabei leise vor sich hin.
Marshall hatte den Jungen noch nie so aufgeregt gesehen. Sid González war ein stilles Kind. Ein Außenseiter in der Bande von Außenseitern, denen John Marshall versuchte, mit dem Pain Shelter ein Zuhause zu geben. Ein Eigenbrötler, der sich dieser Welt versagte und die meiste Zeit allein in seinem Zimmer verbrachte, umgeben von Weltraumpostern und Raumschiffmodellen.
Kurz: Sid González war John Marshalls Sorgenkind.
Er hatte ihn auf der Straße aufgelesen, wie alle seine Schützlinge. Ein dürres Kind, das den Kopf immer gesenkt hielt, weil es nicht vermochte, einem anderen Menschen in die Augen zu sehen, und unentwegt in der panischen Angst lebte, dass »er ihn holte«. Ohne dass Sid jemals ein Wort darüber zu entlocken gewesen wäre, wer angeblich hinter ihm her war. Marshall vermutete, dass »er« nicht existierte. Sid hatte auf der Straße viel durchgemacht und musste die Summe seiner schlechten Erfahrungen in einer imaginären Person konzentrieren.
Drei Jahre waren vergangen, seit Marshall Sid aufgenommen hatte. Aus dem dürren Kind war ein dicker Teenager mit fettigem Haar und Hasenzähnen geworden. Den Kopf hielt Sid nicht mehr gesenkt. Seitdem er auf dem Raumfahrttrip war, reckte er sein Haupt nach oben, den Sternen entgegen. Doch einem Menschen ins Auge zu blicken, war ihm immer noch fast unmöglich.
Marshalls Sorgenkind ... und sein Liebling. Wieso, war ihm ein Rätsel. Sid hatte wenig Liebenswertes an sich. Und doch ertappte sich Marshall, der den ehernen Grundsatz hatte, alle seine Schützlinge gleich zu behandeln, wie er für Sid Ausnahmen machte.
Ausnahmen, die sich nicht rechtfertigen ließen.
Wie etwa den Shelter vier Tage lang sich selbst zu überlassen, mit Sid González einen Greyhound-Bus zu besteigen, dreitausend Kilometer über bröckelnde Highways zu holpern, eingepfercht in eine Kabine, die enger und stickiger war als die eines Raumschiffs, um einem Ereignis beizuwohnen, das ihn bestenfalls als ein absurder Anachronismus aus dem vorigen Jahrtausend anmutete. Die Träume, die sich einst an die Raumfahrt geknüpft hatten, waren längst ausgeträumt.
»Rhodan und Bull!«, rief Sid. »Habe ich es nicht gleich gesagt?«
Rechts neben der Tribüne war ein großes LED-Display zum Leben erwacht. Es zeigte die vier Astronauten in Nahaufnahme. Sie trugen Raumanzüge, hatten die Helme unter die Arme geklemmt. Schweiß stand den Männern in Perlen auf der Stirn. Die Sonne war erst vor einer knappen Stunde aufgegangen, aber in der Wüste Nevadas entfaltete sie im Juni eine überwältigende Kraft.
Marshall fragte sich, wieso man die Astronauten auf diese Weise quälte. Wieso fuhr man sie nicht einfach zu der wartenden Rakete? Dieser Marsch war sinnlos.
Sinnlos wie dieser Flug, der sich hochtrabend »Mission« nannte.
Lautsprecher knackten, und eine Stimme hallte blechern über die Tribüne. Sid erkannte sie sofort.
»Lesly Pounder!«, rief er. »Der Flight Director der NASA. Das mit der NOVA-Rakete war seine Idee!«
Pounder gab eine Pressekonferenz, erklärte Journalisten das Wie und Warum der Mission. Seine Stimme wurde aus einem Saal übertragen, der sich irgendwo in dem Gewirr von Zweckbauten befinden musste, das sich am jenseitigen Ende des Startfelds anschloss. Vielleicht in der spitzen Nadel des vierzigstöckigen Kontrollturms, der aus dem Gewirr herausstach?
John Marshall behagte die Stimme nicht. In seinem früheren Leben, bevor er den Shelter gegründet hatte, war er Investmentbanker gewesen. Er hatte seine Tage damit verbracht, vor Displays zu kauern und Gelder hin- und herzuschieben, abstrakt erscheinende Zahlenkolonnen, die tatsächlich Menschenschicksale bedeuteten. Die übrige Zeit hatte er in Konferenzen verbracht, in denen man ihm von todsicheren Investments erzählt hatte, die sich zumeist als Spekulationsblasen entpuppt hatten.
Dieser Pounder log. Er verschwieg den eigentlichen Kern des Flugs. Marshall war sich sicher. Er hatte von jeher ein unheimlich anmutendes Gespür für Lügen gehabt.
Pounder stellte die Mannschaft der STARDUST vor, begann mit dem Kommandanten.
»Perry Rhodan, der Sofortumschalter!«, japste Sid. »Weißt du, wieso man ihn so nennt?«
Natürlich wusste Marshall es nach der langen Fahrt. Aber er spielte für Sid den Unwissenden. Es tat gut, zu erleben, wie der Junge aus sich herausging. »Nein, wieso?«, fragte er.
»Er hat das Lunar Shuttle gerettet! Vor ein paar Jahren. Alle Systeme hatten ausgesetzt und ...« Sid fuchtelte mit den Armen, spielte das atemberaubende Manöver nach, mit dem Rhodan das Fahrzeug und sein eigenes Leben gerettet hatte. Der verbeulte Pod diente dem Jungen dabei als Shuttle. »Rhodan ist ein Held!«, schloss er schließlich, nachdem der Pod sanft auf einer Zuschauerbank aufgekommen war. »Niemand sonst hätte das Shuttle retten können!«
Ein Held ...?
Marshall sah zu dem Display, musterte die vier Astronauten. Sie lächelten. Es war ein aufgesetztes Lächeln, wirkte gezwungen. Doch da war noch mehr. In den Gesichtern las Marshall Entschlossenheit, Anspannung, aber auch Abenteuerlust. Helden? Marshall zweifelte nicht daran, dass sie nur die besten Absichten verfolgten, dass sie in ihrem Feld die Besten der Besten waren.
Und genau das wollte sich Marshall nicht erschließen.
Wieso gaben sich Menschen von diesem Format mit einem offensichtlich sinnlosen Unternehmen wie der Raumfahrt ab?
Zugegeben, es brauchte gehörigen Mut, in ein Raumschiff zu steigen, das an die Spitze einer Rakete montiert war, die im Grunde genommen nichts anderes als einen riesigen Treibstofftank darstellte, der beim kleinsten Defekt zu explodieren drohte – und diese Drohung wahrzumachen pflegte. Deutlich mehr Mut, gestand sich Marshall unumwunden ein, als er selbst aufgebracht hätte.
Doch wozu taugte dieser Mut?
»... stell dir vor, John, was es bedeutet, wenn die Rettungsmission gelingt?«, fragte in diesem Moment Sid, als hätte er seine Gedanken erraten. »Alle Welt wird die Heldentat der STARDUST bewundern. Der Kongress wird endlich wieder ausreichend Mittel für die Raumfahrt freigeben. Die NASA kann ihre Pläne verwirklichen. Menschen können zu unseren Lebzeiten zum Mars fliegen – und noch weiter!«
Der Junge redete, als wäre er in der Marketingabteilung der Weltraumbehörde angestellt. John erwiderte nichts. Möglich, dass Menschen bald zum Mars flogen. John bezweifelte es. Und selbst wenn es geschehen würde, blieb die Frage: wozu?
Dort draußen gab es nur Vakuum, totes Gestein und – auf manchen Planeten – tödliche Gase. Der Mensch war nicht für den Weltraum geschaffen. Die Erde war die Heimat der Menschheit, würde es immer bleiben. Und es war ihre Pflicht, nach ihrer Heimat zu sehen. Sie mussten es. Oder die Menschheit würde nicht überleben.
Marshall musterte die Gesichter der Astronauten, konzentrierte sich auf Perry Rhodan. Was mochte in diesem Mann vorgehen? Musste er nicht Zweifel an ihrer Mission hegen?
Die STARDUST sollte zum Mond fliegen und nach Armstrong Base sehen. Der Funkkontakt zu der Basis war abgebrochen. Das Schicksal von 18 Männern und Frauen stand auf dem Spiel. Möglicherweise waren sie längst tot, mit Sicherheit in Not. Sie zu retten war ein Unterfangen, das »das Gute im Menschen bewies«, wie Pounders knarrende Stimme in diesem Moment verkündete.
Das mochte zutreffen. Aber bewies es auch die Intelligenz des Menschen?
Sid hatte ihm im Bus die winzigste Einzelheit