§. 36.
Der gemeinsame hellenische Charakter ist den Tempelbauten durch folgende Merkmale aufgedrückt: Zur Stütze dient folgerichtig die cylindrische, kraftbegabte Säule; über der Decke schwebt mit ausgebreiteten Flügeln das Giebeldach; die Form der einzelnen Bauglieder, die Linien, in welchen sie vor- oder zurücktreten, rechteckig geschnitten oder geschweift werden, stehen stets mit ihrer materiellen Bestimmung, ob sie tragen oder getragen werden, belastet sind oder frei schweben, im engsten Zusammenhange. Diese ihre Bestimmung wird überdies in dem dekorativen Schmucke, der sie bedeckt, symbolisch angedeutet. So führen z. B. freischwebende Glieder aufgerichtete Blumen als Ornament, belastete dagegen sind durch überfallende Blätter charakterisirt, bandartig sich hinziehende Theile des Theiles entlehnen ihren Schmuck den Heftbändern u. s. w.
Innerhalb dieser allgemeinen Einheit zieht sich durch die Geschichte der griechischen Architektur der Gegensatz des dorischen und ionischen Styles. Man kann weder den letzteren aus dem ersteren ableiten, noch auch für den dorischen Styl ein höheres Alter in Anspruch nehmen. Entsprechend der Gliederung des hellenischen Volkes in zwei Hauptstämme, entwickeln sich auch die beiden Stylarten nebeneinander, um erst nach vollendeter selbständiger Bildung in einen gegenseitigen Austausch zu treten. Der handwerksmässigen Unterschiede zwischen dem dorischen und ionischen Style zählt man viele; die grundsätzliche Verschiedenheit aber liegt darin, dass im ersteren Style die Beziehung der einzelnen Glieder auf das Ganze strenger festgehalten, und eine knappere Einheit durchgeführt wird, während im ionischen Style die Einzelglieder eine freiere Bewegung athmen, reicher und ungebundener dargestellt sind. Es vertheilt sich der Vorzug gesetzmässiger Nothwendigkeit und reizenden Reichthumes zwischen beide Style.
§. 37.
Zahlreiche, untrügliche Zeichen sprechen dafür, dass die vorhandenen Denkmäler dorischen Styles einer umgebildeten Kunstweise angehören, in welcher bereits einzelne Glieder die bloss traditionelle Geltung haben, ohne ihre ursprüngliche Funktion zu erfüllen. Doch können wir den altdorischen Styl nur voraussetzen, nicht in seiner Besonderheit darlegen. Selbst für die Ansicht, dass der ursprüngliche dorische Tempel keineswegs allseitig von einer Säulenhalle umschlossen (templum peripteros), sondern an den Seiten von einer festen Wand umgeben war, welche unter den Giebeln vortrat, so dass die Säulen zwischen den Stirnpfeilern standen. (Parastadentempel, templum in antis) (Fig. 33) liegen keine unmittelbaren monumentalen Belege vor.[21] Der ausgebildete dorische Styl aber gliedert sich in folgender Weise:
Unmittelbar aus der gemeinsamen, durch einen Stufenbau gebildeten Tempelsohle steigen die Säulen empor, nicht erst durch eine besondere Basis mit derselben verbunden, sondern mit dem in leise geschwungener Linie (entasis) verjüngten und mit zwanzig flach ausgehöhlten, aber scharf aneinander stossenden Furchen (Kanneluren) versehenen Stamme an den Boden anstossend. Viel schärfer noch als die Kanneluren drückt das Kapitäl, welches durch ein Heftband (annuli) mit dem Stamme verknüpft wird, den Begriff des Belastetseins aus. In der Handwerksprache Meerigel (echinus) oder Viertelstab, auch Eierstab genannt, wird das Kapitäl nach Bötticher's Vorgang richtiger als ein Kymation (alle Glieder, die aus dem Zusammenstoss tragender und lastender Elemente entstehen und den Conflict durch ihre wogenförmige Aufbauschung ausdrücken, heissen κὑμα) aufgefasst und nach Fig. 34 entwickelt. Das Profil eines frei aufsteigenden Blattes bei a wird unter der Last eines Körpers nothwendig eine überfallende Form (b) annehmen, und materiell ausgedrückt die Gestalt eines echinus (c) erlangen. Man denke sich nun eine Reihe von Blättern im Kranze vereinigt und belastet, so erhält man ungezwungen das dorische Kapitäl (Fig. 35, a), welchem überdies der Kranz überfallender Blätter in der älteren Zeit förmlich aufgemalt war. Dem Kymation folgt eine niedrige viereckige Platte, der Abakus (Fig. 35, b), die von den Säulen gestützte Decke andeutend und demgemäss mit einem Deckenornamente, dem Mäander, geziert. Die Stirnpfeiler der Cellawand, ein Mittelding zwischen Wand und Säule, sind nicht kannelirt und mit einem leichteren Kymation gekrönt. Ueber den Säulen spannt sich in horizontaler Richtung das Epistylion (Architrav) (Fig. 36, a), das unterste Glied des Oberbaues, durch ein Abakus (b) mit den folgenden Gliedern verknüpft. Es folgen dann kleine an drei Seiten geschlitzte Pfeiler (Triglyphen) (c), welche die Last des Dachbaues aufnehmen und hinter sich die Stirne der Deckenbalken gelagert haben. Ihr aufstrebender Charakter wird bereits am Architrav durch kleine Riemchen, an welchen sechs bommelartige Körper frei schweben, die Tropfenregula (e), angedeutet; als tragende Glieder besitzen sie einen selbständigen Abakus (f); die Räume zwischen den einzelnen Triglyphen, die Metopen (d), waren ursprünglich offen, wie man noch aus den Resten des alten Hekatompedon ersieht, und wurden erst später durch Tafeln verschlossen und mit Reliefbildern geschmückt. Ueber den Triglyphen schliesst die Celladecke ab und beginnt der Dachbau. Wieder lagert sich ein massives Gurtband, das Geison (g), in horizontaler Richtung, weit vorspringend, mit der vorderen Hälfte frei schwebend und aus diesem Grunde durch Unterschneidung entlastet, sowie an der schrägen Unterseite mit viereckigen Platten (viae), an welchen Tropfen hängen (h), belegt. Das Geison trägt aber auch, nämlich die Traufrinne