Einen tiefen Atemzug tat Annemarie. Ach, war das schön auf der sonnigen Gotteswelt. Niemals war ihr das vorher je zum Bewußtsein gekommen. Wie einem gefangenen Vögelchen, dem man die Freiheit zurückgibt, war ihr zumute. Und dabei durfte sie doch ihre Schwingen noch immer nicht recht regen.
Es war ein nicht allzu großer Garten, der zu der Klinik gehörte, wie man sie noch vereinzelt im alten Westen Berlins findet. Aber die in lichtem Frühlingsgrün prangenden Bäume lugten schwarze Schornsteine und rußige Dächer. Aber was schadete das! Drunten blühte der Flieder in roten, blauen und lila schwerduftenden Dolden. Die hängenden Zweige des Goldregens streiften liebkosend die bleichen Wangen der kleinen Genesenden. And als Schwester Elfriede den Wagen jetzt an das große Stiefmütterchenbeet mitten in die Prallsonne schob, da glaubte die so lange ins Krankenzimmer gesperrte Annemarie niemals in ihrem Leben einen schöneren Garten gesehen zu haben.
»So, Blaßschnabel, nun laß dir von der lieben Sonne deine bleichen Bäckchen rot anmalen,« scherzte Doktor Braun und eilte weiter zu seinen anderen Patienten.
Annemarie dehnte sich wohlig in der milden Blütenluft. Sie lugte in das Lila der Fliederbüsche, lauschte auf die Frühlingslieder der gefiederten kleinen Gesellschaft und belustigte sich an einem Spatzenpärchen, das sich mit wütendem »Piep« herumzankte.
Dann begann sie im Garten Umschau zu halten. Hier und da standen Stoßwagen, gleich dem ihren, mit elend aussehenden Menschen darin. Alle hofften sie, in dem warmen Lenzsonnenschein zu gesunden. Auf der anderen Seite des Gartens waren Liegestühle aufgestellt. Annemaries scharfe Augen entdeckten auf einem derselben einen Knaben mit wachsbleichem Gesicht. Seine großen Augen sahen ebenfalls zu ihr herüber.
Ach, daß sie hätte aufspringen und zu ihm hinlaufen können! Annemarie stieß wütend mit ihren Beinen gegen den unschuldigen Wagen. Es gefiel ihr plötzlich gar nicht mehr in dem Garten, den sie noch eben so bewundert. Was hatte sie denn von all den hübschen Kieswegen, wenn sie dieselben nicht entlang laufen konnte, sondern hier still liegen mußte! Und an den Blumen hatte sie auch keine Freude mehr – sie konnte sie ja doch nicht pflücken.
Schwester Elfriede war in die Küche gegangen, um eine Erfrischung für ihre Patientin zu holen. Wie erstaunt war sie, als sie bei ihrer Rückkehr Annemaries verdrießliche Miene gewahrte.
»Nanu, ist dir nicht gut, Kind – ist es nicht schön hier draußen?«
»Nee – gar nicht,« brummte Annemarie.
»Aber du warst doch vorhin so vergnügt, daß du in den Garten durftest, sieh doch mal, wie alles grünt und blüht–«
»Ja, aber wenn man so still liegen muß, ist es grade so mopsig wie oben. Ich will herumlaufen!« weinerlich tönte es in das Lenzjauchzen der Vöglein.
»Du bist ein recht undankbares Kind, Annemarie,« sagte Schwester Elfriede ernst. »Anstatt froh zu sein, nun endlich den schönen Gottesfrühling genießen zu können, bringst du dich selbst um die Freude. Sieh mal den kleinen Jungen da drüben« – die Schwester wies über das Stiefmütterchenbeet zu dem Kleinen, der eigentlich schuld an Annemaries schlechter Stimmung war. »Das arme Kerlchen ist seit seiner Geburt lahm, er wird vielleicht niemals gehen und springen können wie andere Kinder. Und nun hat er noch obendrein eine schwere Operation durchmachen müssen.«
Annemarie blickte voll Interesse und Mitleid zu dem Kleinen hinüber. Wie undankbar von ihr, zu murren, daß sie sich noch nicht selbst fortbewegen konnte. Dabei handelte es sich bei ihr doch nur um Tage, während der arme Knabe – Annemaries weiches Herz war ganz erfüllt von innigem Mitgefühl.
»Liebe Schwester Elfriede, ach bitte, bitte, fahren Sie mich doch zu dem kleinen Jungen hinüber. Ich möchte mich so gern mit ihm unterhalten.«
»Kindchen, das darf ich nicht, so gern ich’s auch täte. Du bist noch nicht ganz aus den Ansteckungswochen heraus, ich habe dich deshalb in den abgelegensten Teil des Gartens gefahren.«
Annemarie wollte schon wieder das Gesicht unwillig verziehen. Aber auch rein gar nichts wurde ihr doch erlaubt! Da aber wanderte ihr Blick wieder zu dem kleinen Jungen hinüber und – sie schämte sich.
»Bitte, Schwester Elfriede, würden Sie nicht einen Strauß Flieder abschneiden – Vater hat erlaubt, daß wir uns einen Busch mitnehmen – und ihn dem armen Jungen mit einem schönen Gruß von mir bringen?« bat sie.
Das tat die gute Schwester gern.
Annemarie konnte erkennen, wie die Augen des kranken Knaben vor Freude aufleuchteten. Und jetzt nickte er ihr einen Dank hinüber.
Von nun an war Annemarie mit dem gelähmten Jungen gut Freund. Zwar sprachen sie sich nie, aber sie grüßten sich und winkten sich zu. Der Kleine schrieb ihr Briefchen, und Annemarie antwortete mündlich durch Schwester Elfriede. Denn auch Briefe können anstecken.
Auf diese Weise erfuhr das kleine Mädchen, daß der Junge Kurt hieß, und ebenfalls zehn Jahre alt war. Daß er noch niemals in eine Schule gegangen, sondern immer daheim unterrichtet worden sei, und daß er gar nicht weit von ihnen wohnte.
Annemarie konnte die Stunde, wo es in den Garten hinausging, jetzt nie erwarten. Den ganzen Morgen überlegte sie schon, was sie ihrem Freund alles wollte bestellen lassen. Zum Glück war der Mai herrlich, nur selten enttäuschte ein Regentag die sich aufeinander freuenden Kinder.
So kam das Pfingstfest heran und damit der Zeitpunkt, wo Annemarie gesund erklärt und wieder heimkehren durfte.
Das kleine Mädchen war selig. Halbtot freute sie sich aus jeden Einzelnen, vor allem natürlich auf Mutti. Und dann auf ihre Kinderstube, auf Puck und Mätzchen, auf die Schule und alle ihre Freundinnen – Schwester Elfriede konnte gar nicht behalten, was Annemarie in ihrer Heimkehrfreude dem kleinen Kurt alles sagen ließ.
Der sah noch bleicher aus als sonst, als er hörte, daß das blonde kleine Mädchen nicht mehr in den Garten kommen würde. Aber er war ein solch guter, selbstloser Junge, daß er seiner Freundin die Freude durch kein trauriges Wort trüben mochte.
Annemarie hatte inzwischen wieder laufen gelernt. Zwar mit dem Umherspringen haperte es immer noch, gar zu leicht ermüdete das kaum genesene Kind. Aber sie konnte doch, ehe sie die Klinik verließ, selbst zu Kurt in den Garten gehen und sich von ihm verabschieden. Denn jetzt war sie nicht mehr »gefährlich«, wie Schwester Elfriede lachend sagte.
Ach, von der guten, sanften Schwester ward ihr das Scheiden doch recht schwer. Gar so lieb und treu hatte sie für sie gesorgt. Aber als Annemarie, ihre Gerda auf dem Arm, erst neben Vater in der Droschke saß, da dachte sie nur vorwärts und nicht mehr zurück.
Es war ein lachender Pfingstsonntag, als Doktors Nesthäkchen wieder daheim ihren Einzug hielt. Die Sonne strahlte so golden, die Glocken klangen und brausten von allen Kirchen Berlins. Es war, als habe die ganze Welt sich zum Empfang des blonden Doktorkindes geschmückt. Auf dem Balkon hatte die ganze Braunsche Familie, Puck eingerechnet, Aufstellung genommen. Die Jungen ließen ihre Taschentücher flattern und schrien »Hurra«, als die Droschke unten hielt.
Die Mutter aber faltete beim Klang der Pfingstglocken ihre Hände und dankte Gott aus tiefem Herzensgrund, daß er ihren Liebling behütet hatte.
5. Kapitel
Ein schwerer Entschluß
Ach – war das schön wieder daheim! Alles erschien Annemarie ganz neu. Ihr Kinderzimmer, das die Brüder mit Pfingstmaien in eine grüne Laube verwandelt hatten, all ihre Bücher und Spiele. Und ihre Lieben selbst, die sie so lange entbehrt hatte. Mutti ging sie in den ersten drei Tagen nicht von der Seite. Es war rührend, das Glück des kleinen Mädchens zu beobachten, wieder von der Mutter geliebkost und gestreichelt zu werden. Fräulein und Hanne lasen ihr jeden Wunsch von den Augen. Hans schenkte ihr Federn und Löschblätter vor Freude, sein kleines Schwesterchen wieder daheim zu haben.