Die Heuhalme entfielen Annemaries Händen. Ihre Arme sanken schlaff herab. Wirklich, dort oben auf der kleinen Anhöhe zeichneten sich von dem durchsichtig klaren Äthergrund drei Figuren wie scharfgeschnittene Silhouetten ab. Ein Blick überzeugte Annemarie, daß es in der Tat Rudolf Hartenstein war, der dort, an einem Arm die Schwester, am andern die Cousine, den Talblick genoß. Sie wandten der hinüberstarrenden Annemarie den Rücken. Jetzt schritten sie weiter, ohne sie bemerkt zu haben.
Annemarie wußte nicht, sollte sie sich darüber freuen oder ärgern. Jedenfalls war es um ihre Arbeitsfreudigkeit geschehen. Und da hatte sie gedacht, er könnte gleich heute kommen, sie zum Spazierengehen abzuholen. Ganz recht war ihr diese Lehre. Was bildete sie sich auch ein, es mit einem so liebreizenden Mädchen wie Anneliese Bergholz aufnehmen zu können.
Die Mädel begannen allmählich über Muskelschmerzen zu stöhnen. Egerling hatte ein Einsehen. Nachdem er den Grasstrich, seiner Vornahme gemäß, niedergelegt hatte, setzten sie unter lebhaften Dankesworten des Bauern ihren unterbrochenen Spaziergang fort.
»Zum Erntefescht müscht ihr komme und mithalte«, rief er noch hinter ihnen drein.
Die lustige Stimmung der jungen Wanderer war noch gerade so fidel wie zuvor. Die Sonne strahlte ganz ebenso golden. Und doch schien es Annemarie, als ob alles ringsum verändert wäre. Woran lag das nur?
Im Dreimäderlhaus waren die Kirchenmäuse noch nicht heimgekehrt. Der Schlüssel lag unangetastet an seinem Platz. Annemarie hatte die drei Schwaben, die Lust zu haben schienen, gemeinsam mit ihnen zu Abend zu speisen, ziemlich deutlich verabschiedet. Sie sei heute zu müde und bedürfe bald der Ruhe.
»Da sieht man’s halt wieder, daß ihr Mädle nix aushalte könnt. Wozu studiert’s nachher, wenn’s nit mal eine Nacht durchbummele kannscht«, zog Egerling sie auf.
»Neschthäkche hat halt Weltschmerz!« – Neumann machte die dazu passenden Augen.
»Schöne Mädli, di kenn i wohl drei an der Zahl, die eine liab i, die zweite küss’ i, die dritte heirat’ i amal«, sang Krabbe mit bierheiserer Stimme. »Hascht Luscht, Neschthäkche, die dritte zu werde?«
»Unverschämtheiten mit anzuhören, dazu habe ich keine Lust!« Nesthäkchen sprach’s und wandte den Freunden den Rücken.
»Ja, was hat’s denn? Warum ischt’s denn gar so borschtig heut?« meinte Egerling verwundert. Die liebenswürdige Annemarie, die auf jeden Scherz sonst ein kecklustiges Wort fand, kannte man ja gar nicht wieder.
»‘nen Katzenjammer hat sie«, lachte Marlene.
»Wenn die Kinder müde sind, werden sie unartig«, stimmte auch Ilse ein, die recht gern den Abend in lustiger Gesellschaft verbracht hätte.
Inzwischen hatte Annemarie die Haustür geöffnet. Etwas Weißes, das dazwischen geklemmt war, fiel zu Boden. Schnell bückte sie sich danach. Eine Besuchskarte – Dr. med. Rudolf Hartenstein – stand in gedruckten Lettern darauf. Darunter mit Bleistift Olga Hartenstein, Anneliese Bergholz.
Also war er doch gekommen! Alle drei waren sie dagewesen, sie zum Spaziergang abzuholen. Was solch ein weißes Blatt doch vermochte. Annemarie sprang plötzlich trällernd die Treppe hinauf ans Fenster.
»Wenn’sch brav sein wollt, Studentle, und eure Keckheite lasse, dürft’sch dableibe und eure Brote halt im Gärtle esse«, rief sie schwäbelnd mit lachendem Gesicht hinter den drei abziehenden Schwaben her.
»Ischt’s wahr?« Sofort wurde kehrtgemacht.
»Ja, Neschthäkche, bei dir kennt man sich nimmer aus.« Heilfroh waren die Kameraden, daß Annemarie wieder scherzte. Denn sie hatten das muntere Ding rechtschaffen gern.
Das wurde wieder ein fideler Abend im Dreimäderlhausgarten. »Nachfeier zum Rosenfest« nannten sie’s. Annemarie wußte nichts mehr von Katzenjammer, von Müdigkeit oder gar Gereiztheit. Jetzt war sie es, welche die anderen aufzog.
»Neschthäkche, werd’ bloß kein launisches Frauenzimmer nit«, meinte Egerling väterlich, als sich die drei zum Heimweg entschlossen. »Launische Weible hat unser Herrgott im Zorn erschaffe.«
Eine fleißige Arbeitswoche folgte den frohen Festtagen. Zielbewußt gingen die drei Freundinnen, trotzdem sie in dem fröhlichen Schwabenland nur zu gern ihre Jugend genossen, von Anfang an auf ihr Ziel los. Marlenes Pflichttreue wirkte auch auf die etwas leichter geartete Annemarie vorbildlich.
Doktors Nesthäkchen hatte in dieser Woche doppelte Pflichten. Auch hauswirtschaftliche. Die waren ungleich schwieriger als die gelehrtesten medizinischen Abhandlungen, die es zu verstehen galt. Wer die »Woche« hatte, mußte die Betten machen und das Waschgeschirr reinigen, denn Frau Kirchmäuser hielt sich keine Bedienung. Der Mietpreis war deshalb mäßiger als anderswo. Dann galt es, Kakao zu bereiten, Einkäufe zu machen und den Abendbrottisch zu versorgen. Das war gar nicht so einfach, wenigstens für Doktors Nesthäkchen nicht, die stets daheim von Hanne und dem Hausmädchen verwöhnt und bedient worden war.
Hier galt’s nun selbst anzupacken. Als Annemarie zum erstenmal die Betten gerichtet hatte, zeigten dieselben eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Schwäbischen Alb. Wellenlinien, niedliche Hügel und Anhöhen, dazwischen Täler und Schluchten. Die Freundinnen lachten sie weidlich aus. Die praktische Ilse offenbarte ihr das Geheimnis, wie ein Bett glatt und eben zu richten sei.
Auch der Einkauf hatte seine Schwierigkeiten. Nesthäkchen war nicht kleinlich. Es kaufte gleich engros, weil man es im ganzen immer ein paar Pfennige preiswerter erhielt. So überraschte es eines Tages die Freundinnen mit zehn Köpfen Blumenkohl, weil es den einen, den es ursprünglich hatte kaufen wollen, dadurch um zwanzig Pfennige billiger bekam. Marlene und Ilse waren entsetzt. Die ganze Woche durch zu sämtlichen Mahlzeiten mußte Blumenkohl gefuttert werden. Er wollte nicht zu Ende gehen. Frau Veronika nahm freundlichst zwei Köpfe ab, immer noch war Blumenkohl da. Der ganze Schwäbische Wanderbund, auch Ziegenhals und Steinbock, mußten sich opfern und einer Blumenkohleinladung folgen. Den gemeinsamen Bemühungen gelang es schließlich, den endlosen Blumenkohl zu vertilgen. Aber während ihres ganzen Studienjahres mochten die Bewohnerinnen des Dreimäderlhauses keinen Blumenkohl mehr sehen.
Beim Kochen hatte Doktors Nesthäkchen noch die besten Erfolge zu verzeichnen. Dies lag aber weniger an Annemaries Tüchtigkeit, als an Frau Veronikas Hilfsbereitschaft. Die Frau Wirtin hatte nun mal ihren Narren an dem hübschen, lustigen Fräulein gefressen. Nachdem Annemarie gleich zu Beginn ihrer hausfraulichen Bestrebungen ein wenig aufgeregt zu ihr gekommen war: »Liebe, gute Frau Kirchmäuser, sehen Sie doch bloß mal nach, ob die Eier schon weich sind. Sie kochen bald eine halbe Stunde!« Ja, da hatte Frau Veronika es doch für richtig gehalten, nach derartigen Proben von wirtschaftlicher Tüchtigkeit selbst mit Hand anzulegen. Annemarie aber mochte sich nicht auslachen lassen. Sie schämte sich, daß sie weniger verstand als die Freundinnen. Sie nahm sich vor, bei Frau Veronika in die Lehre zu gehen. Mit Energie und Intelligenz machte sie sich ans Werk. Und wenn’s auch noch manche Klippe, ja sogar öfters mal Schiffbruch gab, Frau Veronika vermochte Annemarie jetzt doch schon wohlwollend die Anerkennung zu zollen: »Sie sein gar nit so arg dumm, wie i denkt hab’.«
Heute galt es den Einkauf zu besorgen. Es war Wochenmarkt. Die Bauernfrauen kamen mit Pferd und Wagen in die Stadt kutschiert. Oder sie trugen auf dem Kopf, wie es hier Landesbrauch war, den Käfig mit gackernden Hühnern.
Den buntgeflochtenen Marktkorb der Frau Veronika an dem einen Arm, am andern das Vronli, das den Kaschperle hinter sich herzog, machte sich Doktors Nesthäkchen auf den Weg. Für die Kinder war es die größte Freude, das Tanteli beim Einkauf zu begleiten.
Der Marktplatz bot ein malerisches Bild. Unter roten und grauen Regenschirmen von gewaltigen Dimensionen hielten die Bauernfrauen, nicht weniger umfangreich, meistens in Tracht, ihre Waren feil. Der steinerne Neptun schaute von seinem Brünnle in eherner Ruhe wie vor Hunderten von Jahren auf das Gewühl herab. Allzu voll war es nicht mehr. Die Bewohner hatten bereits ihre Einkäufe am Vormittag erledigt, der für Annemarie wissenschaftlichen Studien geweiht war.
Zuerst