»Ich glaube, das beurteile ich lieber selbst, wenn Sie erlauben.«
»Nun, ich erlaube nicht. Die Typen von der Forensik haben hier bereits alles mit äußerster Sorgfalt untersucht«, spöttelte Allardyce. »Falls man etwas hätte finden können, haben sie es bereits gefunden. Ich bezweifle, dass Sie hierzu etwas beitragen könnten. Wie ich bereits sagte, es gibt hier nichts für Sie.«
»Ja, und wir alle wissen, wie gründlich Ihre Jungs sein können, nicht wahr, Allardyce?«
Der Blick, den der Polizist ihm zuwarf, kündigte einen Vulkanausbruch an. »Ihr Ton gefällt mir nicht! Ich könnte Sie wegen Verschwendung meiner Zeit und Behinderung von Polizeiarbeit einsperren, wissen Sie das?«
»Ich glaube eher, dass Sie es sind, der meine Zeit verschwendet«, schoss Ulysses zurück.
»Hören Sie, Quicksilver. Muss ich Sie daran erinnern, dass ich ein Inspector der Metropolitan Police Ihrer Majestät bin? Ich verbitte mir diesen Ton!«
»Und ich muss Sie sicher auch nicht daran erinnern, welcher Autorität ich unterstehe.« Ulysses griff erneut in seine Manteltasche. In weniger als einer Sekunde hatte er das Lederetui hervorgeholt und aufgeklappt. »Meine Karte. Sie beeindruckt Ihren Constable sicherlich genug, um mich auf der Stelle hier hereingehen zu lassen.«
»Gut, in Ordnung. Packen Sie es weg. Sie haben fünf Minuten, dann will ich, dass Sie von hier verschwunden sind, egal wer Ihr Strippenzieher ist.«
»Das sollte mehr als genug Zeit sein«, sagte Ulysses, schritt an dem Inspector vorbei und ließ ihn und seinen Sergeant grummelnd zurück. Er näherte sich den Männern, die sich um den Körper versammelt hatten. Die Leiche war die eines behäbigen Mannes in seinen besten Jahren, bis die Ereignisse der letzten Nacht ihm einen vorzeitigen Tod beschert hatten. Er lag ausgestreckt inmitten der Überreste eines zersplitterten Schaukastens. Die Wachskonstruktionen, die sich zuvor darin befunden hatten, waren herausgenommen worden und lehnten nun an der Galeriewand, ihre wächsernen Zähne gegen jeden gefletscht, der den Tatort betrat.
»Verzeihen Sie bitte, Gentlemen.« Ulysses bahnte sich einen Weg durch die Weißkittel und winkte dabei lässig mit dem Kartenetui. Angesichts einer solchen Überlegenheit und großbürgerlichen Selbstvertrauens machten die forensischen Techniker sogleich Platz.
Blut, das meiste davon getrocknet, bedeckte die gezackten Glasscherben neben dem Kopf des toten Mannes, und Ulysses konnte erkennen, dass es ebenfalls im Haar und an der Kopfhaut des Opfers klebte. Winzige Glassplitter hatten das Gesicht und die Hände des Toten zerschnitten, einige davon waren noch immer in dem nun lehmähnlichen Fleisch eingebettet.
Doch noch schlimmer als das Blut und die Sauerei, die aus einer keilförmigen Öffnung an seinem Hinterkopf sickerte, war der Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Nachtwächter war in blankem Entsetzen gestorben. Seine Gesichtszüge waren zu einer Maske des Schreckens erstarrt, die Lippen von den Zähen zurückgezogen, der Mund weit offen, in einem stillen Schrei maßlosen Gräuels.
»Wie ist er gestorben?«, fragte Ulysses, obwohl er die Antwort bereits vermutete.
»Ein Schlag auf den Kopf; einige davon, um ehrlich zu sein«, entgegnete einer der Weißkittel.
»In der Tat«, grübelte Ulysses. Doch wer oder was hatte ihn getötet?, wunderte er sich. Was konnte nur Schuld daran haben, dass dieser arme Wicht mit einem solchen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht hatte sterben müssen?
»Zu welcher Uhrzeit starb er?«
»Vom Eintritt der Leichenstarre her würde ich sagen … so gegen Mitternacht«, antwortete der Pathologe, der den Körper zuvor begutachtet hatte. »Vermutlich kurz danach.«
»Wurde etwas von der Leiche entfernt?«
»Nein«, warf ein weiterer Techniker ein, »wie es scheint, nicht.«
Ulysses trat zurück und überließ es den Weißkitteln, ihre Arbeit zu beenden. Er hatte zwar sein Mordopfer gefunden, doch wie Wormwood sagte, sollte es auch einen Einbruch gegeben haben. Was also war entwendet worden?
Hinter ihm hingen die Reste einer zerstörten Tür in den Angeln und gaben die Sicht auf ein ebenso zerstörtes Büro frei. Polizisten beschäftigten sich bereits mit diesem Abschnitt. Ulysses näherte sich mit vorsichtigen Schritten, winzige Glasscherben knirschten unter seinen Absätzen. Am Eingang des Büros hielt er inne, um den Schlamassel vom Türrahmen aus etwas genauer betrachten zu können. Dann, in dem gedämpften Sonnenlicht, das in die Galerie floss, erhaschte Ulysses einen Blick auf etwas, nicht mehr als ein Fädchen – etwas, das Inspector Allardyce’s Leute übersehen hatten. In dem gesplitterten Holz hingen drei rötlich-braune Haare. Auf den ersten Blick erinnerten sie Ulysses an grobes Tierhaar. Keineswegs hatten sie einst dem ermordeten Nachtwächter gehört; dafür hatten sie die falsche Farbe.
Die Polizisten und Wissenschaftler um ihn herum waren so mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt, dass ihm keiner auch nur die leiseste Beachtung schenkte, als Ulysses ein Beweismitteltütchen aus seiner Manteltasche zog, eine Pinzette aus einer anderen, die Haare aus dem Türrahmen fischte, ohne sie mit der bloßen Hand zu berühren, das Tütchen sorgfältig versiegelte und zurück in seine Tasche steckte. Dann erst betrat er das Bürolabor.
Der Raum war ein einziges Chaos. Der Grad der Verwüstung deutete an, dass mehr als ein bloßer Raub stattgefunden haben musste. Außerdem hatte es offensichtlich einen Streit gegeben.
Trotz der Überbleibsel, die nun den gesamten Raum und den Boden bedeckten, konnte sich Ulysses ein Bild davon machen, wie das Labor wohl ausgesehen haben mochte, bevor dort eingedrungen wurde.
Einst waren darin wohl Bücherbretter und Regale gewesen, die alle möglichen Wissenschaftsjournale und Nachschlagewerke enthielten, Tische über und über mit Destillationsapparaten, wo nun nur noch eine große Menge zerbrochenen Glases lag. Einer der Tische war umgedreht worden und eines seiner Beine abgebrochen. Schief an der Wand hing der gerahmte Druck eines Cartoons aus einem der klassischen Punch-Magazine, auf dem Darwin verunglimpft wurde. Flecken bedeckten Teile der Möbel und ebenso die Wände, was darauf hinwies, dass ein Behälter mit einer Flüssigkeit zerschmettert und in dem Raum verspritzt worden war. Inmitten dieses Durcheinanders entging Ulysses’ geübten Augen dennoch nicht, dass tatsächlich etwas fehlte. Mit Bedacht, damit er nicht den Halt in all dem Müll auf dem Boden verlor, bahnte er sich seinen Weg zur am weitesten entfernten Ecke des Raumes. Hier stand ein Schreibtisch mit einem umgedrehten Tintenfässchen darauf, dessen blau-schwarze Flüssigkeit über die meisten Papiere gelaufen war. Inmitten der Sauerei von Unterlagen erkannte er jedoch seltsamerweise eine saubere Stelle, als hätte etwas auf dem Tisch gestanden und wäre erst fortgenommen worden, nachdem die Papiere in diese Unordnung gebracht worden waren.
Ulysses räumte die Blätter fort. Dort, in dem brüchigen grünen Leder der Schreibtischoberfläche, prangte eine deutliche Kerbe, wo zuvor etwas Kantiges und relativ Schweres gestanden haben musste. Auch an den Wänden selbst fand er Beweismittel in Form von Verfärbungen in der Wandfarbe, die auf langfristige Hitzeeinwirkung hindeuteten. Ulysses inspizierte die Größe und die Position der Verfärbungen. Etwas Heißes und Kastenförmiges; etwas wie eine kleine Differenzmaschine, das war es wohl, was der mysteriöse Dieb aus diesem Hort des friedlichen, wissenschaftlichen Erforschens entwendet hatte.
Ulysses’ Blicke überflogen den Raum noch einmal, doch er war sich sicher, dass er genug gesehen hatte. Zudem legte er Wert auf eine private Meinung zu dem Inhalt in seiner Tasche. Vorsichtig trat er den Rückweg durch das Büro an. Doch noch etwas war hier, nagte es am Rande seines Unterbewusstseins. Es handelte sich nicht um etwas, das er gesehen hatte, sondern um etwas, das er roch, eine ranzige Ausdünstung, die sich in seiner Kehle festsetzte und die seinen Kopf mit nur noch mehr Fragen vollpumpte.
Er schnupperte und für einen Moment erhaschte er eine Spur von Ochsenfleisch und Fencheleintopf, die ihre besten Zeiten hinter sich hatten. Das war es – Anis und verdorbenes Fleisch; eine wirklich widerwärtige und ungewöhnliche Kombination