Vielleicht ist es in heutiger Zeit ein Verdienst, das historische Recht anzuerkennen, denn es ist in der That erstaunlich, mit welchem Leichtsinn gerade diejenigen, welche jede Kleinigkeit, die sie gefunden haben, als eine Entdeckung preisen, über die Vorfahren aburtheilen. Ich halte auf mein Recht, und darum erkenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht zu vertheidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft unserer individuellen Entwickelung und unseres Einflusses auf das Allgemeine. Eine solche Vertheidigung ist keine That eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wissen, sondern auch in der Schätzung der Anderen. Diese Schätzung aber beruht zum grossen Theile auf der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen, das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte.
In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft, wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte conserviren und das Neue hinzufügen. Aber den Zeitgenossen trübt sich das Bild dieser Thätigkeit. Denn nur zu leicht gewinnt es den Anschein, als würde eben nur ein buntes Durcheinander von Altem und Neuem gewonnen, und die Nothwendigkeit, die falschen oder ausschliessenden Lehren der Neueren mehr als die der Alten zu bekämpfen, erzeugt den Eindruck einer mehr revolutionären, als reformatorischen Einwirkung. Es ist freilich bequemer, sich auf die Forschung und die Wiedergabe des Gefundenen zu beschränken und Anderen die „Verwerthung“ zu überlassen, aber die Erfahrung lehrt, dass dies überaus gefährlich ist und zuletzt nur denjenigen zum Vortheil ausschlägt, deren Gewissen am wenigsten zartfühlend ist. Uebernehmen wir daher jeder selbst die Vermittelung zwischen der Erfahrung und der Lehre.
Die Vorlesungen, welche ich hier mit der Absicht einer solchen Vermittelung veröffentliche, haben so ausdauernde Zuhörer gefunden, dass sie vielleicht auch nachsichtige Leser erwarten dürfen. Wie sehr sie der Nachsicht bedürfen, fühle ich selbst sehr lebhaft. Jede Art von freiem Vortrage kann nur dem wirklichen Zuhörer genügen. Zumal dann, wenn der Vortrag wesentlich darauf berechnet ist, als Erläuterung für Tafel-Zeichnungen und Demonstrationen zu dienen, muss er nothwendig dem Leser ungleichmässig und lückenhaft erscheinen. Die Absicht, eine gedrängte Uebersicht zu liefern, schliesst an sich eine speciellere, durch ausreichende Citate unterstützte Beweisführung mehr oder weniger aus und die Person des Vortragenden wird mehr in den Vordergrund treten, da er die Aufgabe hat, gerade seinen Standpunkt deutlich zu machen.
Möge man daher das Gegebene für nicht mehr nehmen, als es sein soll. Diejenigen, welche Musse genug gefunden haben, sich in der laufenden Kenntniss der neueren Arbeiten zu erhalten, werden wenig Neues darin finden. Die Anderen werden durch das Lesen nicht der Mühe überhoben sein, in den histologischen, physiologischen und pathologischen Specialwerken die hier nur ganz kurz behandelten Gegenstände genauer studiren zu müssen. Aber sie werden wenigstens eine Uebersicht der für die cellulare Theorie wichtigsten Entdeckungen gewinnen und mit Leichtigkeit das genauere Studium des Einzelnen an die hier im Zusammenhange gegebene Darstellung anknüpfen können. Vielleicht wird gerade diese Darstellung einen unmittelbaren Anreiz für ein solches genaueres Studium abgeben, und schon dann wird sie genug geleistet haben.
Meine Zeit reicht nicht aus, um mir die schriftliche Ausarbeitung eines solchen Werkes möglich zu machen. Ich habe mich deshalb genöthigt gesehen, die Vorlesungen, wie sie gehalten wurden, stenographiren zu lassen und mit leichten Aenderungen zu redigiren. Herr Cand. med. Langenhaun hat mit grosser Sorgfalt die stenographische Arbeit besorgt. Soweit es sich bei der Kürze der Zeit thun liess, und soweit der Text ohne dieselben für Ungeübte nicht verständlich sein würde, habe ich nach den Tafel-Zeichnungen und besonders nach den vorgelegten Präparaten Holzschnitte anfertigen lassen. Vollständigkeit liess sich in dieser Beziehung nicht erreichen, da schon so die Veröffentlichung durch die Anfertigung der Holzschnitte um Monate verzögert worden ist. Misdroy, am 20. August 1858.
Vorrede zur zweiten Auflage.
Der vorliegende Versuch, meine von den hergebrachten abweichenden Erfahrungen dem grösseren Kreise der Aerzte im Zusammenhange vorzuführen, hat einen unerwarteten Erfolg gehabt: er hat viele Freunde und lebhafte Gegner gefunden. Beides ist gewiss sehr erwünscht, denn die Freunde werden in diesem Buche keinen Abschluss, kein System, kein Dogma finden, und die Gegner werden genöthigt sein, endlich einmal die Phrasen aufzugeben und sich an die Sachen selbst zu machen. Beides kann nur zur Bewegung, zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen.
Allein Beides hat doch auch seine niederschlagende Seite. Wenn man ein Decennium hindurch mit allem Eifer gearbeitet und die Ergebnisse seiner Forschungen dem Urtheile der Mitwelt vorgelegt hat, so stellt man sich nur zu leicht vor, dass mehr davon, dass vielleicht der grössere und wesentliche Theil allgemeiner bekannt sein könne. Dies war, wie die Erfahrung gelehrt hat, bei meinen Arbeiten nicht der Fall. Einer meiner Kritiker erklärt es aus der Breite meiner Beweisführungen. Mag es sein, allein dann hätte ich vielleicht erwarten dürfen, dass andere Kritiker die Beweise, welche sie hier nicht in ausreichender Weise fanden, in den Originalarbeiten aufgesucht hätten. Denn ausdrücklich hatte ich schon das erste Mal hervorgehoben, dass diejenigen, welche sich in der laufenden Kenntniss der neueren Arbeiten erhalten hätten, hier wenig Neues finden würden.
In der neuen Ausgabe habe ich mich darauf beschränkt, den Ausdruck zu verbessern, Missverständliches schärfer zu fassen, Wiederholungen zu unterdrücken. Gewiss bleibt auch so noch sehr Vieles der Verbesserung bedürftig, aber es schien mir, dass dem Ganzen der frischere Eindruck der mündlichen Rede und des freien Gedankenganges möglichst erhalten bleiben müsse, wenn es noch weiterhin als ein wirksames Ferment für die an sich so verschiedenartigen Richtungen des medicinischen Lebens und Wirkens dienen sollte. Denn das Buch wird seinen Zweck erfüllt haben, wenn es Propaganda, nicht für die Cellular-Pathologie, sondern nur überhaupt für unabhängiges Denken und Forschen in grossen Kreisen machen hilft.
Berlin, am 7. Juni 1859.
Vorrede zur dritten Auflage.
Die neue Auflage, welche hiermit vor das Publikum tritt, hat wesentliche Umgestaltungen erfahren müssen. Der Verfasser hat sich genöthigt gesehen, die Form der Vorlesungen ganz aufzugeben, weil sie ihn hinderte, wesentliche Veränderungen, insbesondere Neuerungen in den Text zu bringen. Solche Aenderungen waren aber vielfach nothwendig. Denn die Wissenschaft, insbesondere die deutsche, ist in den drei Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage