Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Lou Andreas-Salome. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lou Andreas-Salome
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066113384
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Individuums,—mit dem Zustande der Menschheit zur Zeit des Heerdenwesens, vor aller staatlichen Gliederung: wie dort der Einzelne seine Individualität und sein Machtgefühl nur besitzt im geschlossenen Ganzen der Heerde, so hier die einzelnen Triebe im Ganzen der geschlossenen Persönlichkeit, deren Inbegriff sie bilden. Die Naturen der zweiten Gruppe dagegen leben in ihrem Innern, wie die Menschen bei einem Kriege Aller gegen Alle leben würden;—die Persönlichkeit selbst löst sich gewissermassen in eine Unsumme von eigenmächtigen Triebpersönlichkeiten auf, in eine Subject-Vielheit. Dieser Zustand wird nur überwunden, wenn von aussen her eine höhere Macht, eine stärkere Autorität geschaffen werden kann, die über Alle zu herrschen weiss: gleich einem Gesetz staatlicher Gliederung, für das es nur unterworfene Gewalten gibt. Denn was in den zuerst geschilderten Naturen ganz instinctmässig vor sich geht—die Einordnung des Einzelnen ins Ganze,—das muss hier erst erobert und den tyrannischen Einzelgelüsten abgezwungen werden als eine unerbittlich feste Rangordnung der Triebe untereinander.[8]

      Man sieht, hier ist der Punkt, an welchem Nietzsche die Möglichkeit einer Selbstbehauptung als Ganzes durch das Leiden alles Einzelnen aufgegangen ist. Hier liegt wie in einer Knospe eingeschlossen die ursprüngliche Bedeutung seiner späteren Decadenz-Lehre mit dem Grundgedanken: es giebt die Möglichkeit eines höchsten Vermögens und Schaffens durch ein beständiges Erdulden und Verwunden. Mit einem Wort: hier ging ihm die Bedeutung des Heroismus als Ideal auf. Die eigene qualvolle Unvollkommenheit riss ihn dem Ideal und dessen Tyrannei entgegen: »Unsere Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen.« (Menschliches, Allzumenschliches, II 86).

      »Was macht heroisch? zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehen« sagt er (Fröhliche Wissenschaft 268). Und ich füge dem noch drei Aphorismen bei, die er mir einmal niederschrieb, und die mir seine Auffassung mit besonderer Schärfe zu verdeutlichen scheinen:

      »Der Gegensatz des heroischen Ideals ist das Ideal der harmonischen Allentwicklung,—ein schöner Gegensatz und ein sehr wünschenswerther! Aber nur ein Ideal für grundgute Menschen. (Zum Beispiel: Goethe).[9]

      Weiter: »Heroismus—das ist die Gesinnung eines Menschen, der ein Ziel erstrebt, gegen welches gerechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt. Heroismus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergang.«

      Und als drittes: »Menschen, die nach Grösse streben, sind gewöhnlich böse Menschen; es ist ihre einzige Art, sich zu ertragen.« Das Wort »böse« will hier ebenso wie oben das Wort »gut« weder im Sinn des landläufigen Urtheils noch überhaupt im Sinne eines Urtheils genommen werden, sondern blos als Bezeichnung eines Thatbestandes: und als eine solche bezeichnet es für Nietzsche stets den »innern Krieg« in einer Menschenseele,—dasselbe, was er später »Anarchie in den Instincten« nennt. In seiner letzten Schaffensperiode hat sich ihm, auf dem Wege einer bestimmten Gedankenentwicklung, das Bild dieses Seelenzustandes bis zum Culturbilde der Menschheit ausgedehnt; die Losungsworte heissen da: Innenkrieg=Décadence, und Sieg=Selbstuntergang der Menschheit zur Erschaffung einer Uebermenschheit. Ursprünglich aber handelt es sich für ihn um sein eigenes Seelenbild.

      Er unterscheidet nämlich die harmonische oder einheitliche und die heroische oder vielspältige Naturanlage als die beiden Typen des handelnden und des erkennenden Menschen, mit anderen Worten: den Typus seines Wesens-Gegensatzes und seinen eigenen.

      Zum handelnden Menschen wird ihm der Ungetheilte und Unzersetzte, der Instinct-Mensch, die Herrennatur. Wenn dieser seiner natürlichen Entwicklung folgt, muss sein Wesen sich immer selbstsicherer und fester zuspitzen und seine gedrängte Kraft in gesunden Thaten sich entladen. Die Hemmnisse, welche die Aussenwelt ihm möglicherweise entgegenstellt, enthalten zugleich eine Anregung und Förderung dafür: denn nichts ist ihm naturgemässer, als der tapfere Kampf nach aussen hin, in nichts erweist sich seine ungebrochene Gesundheit so sehr als in seiner Kriegstüchtigkeit. Mag sein Intellect klein oder gross sein: in jedem Fall steht er im Dienst dieser frischen Wesenskraft und dessen, was ihr wohl thut und noth thut,—er hat sich ihr in seinen Zielen nicht entgegengesetzt, er hat sie nicht zersetzt, er folgt nicht eignen Wegen.

      Ganz anders der erkennende Mensch. Anstatt nach einem festen Zusammenschluss seiner Triebe zu suchen, der sie schützt und erhält, lässt er sie so weit als irgend möglich auseinanderlaufen; je breiter das Gebiet, das sie zu umfassen lernen, desto besser, je mehr der Dinge, bis zu denen sie ihre Fühlhörner ausstrecken, und die sie betasten, sehen, hören, riechen, desto tüchtiger sind sie ihm für seine Zwecke,—für die Zwecke des Erkennens. Denn ihm ist nunmehr »das Leben ein Mittel der Erkenntniss« (Fröhliche Wissenschaft 324) und erruft seinen Genossen zu (Fröhliche Wissenschaft 319): »Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchstiere sein!« So gibt er sich selbst freiwillig als Einheit auf,—je polyphoner sein Subject, desto lieber ist es ihm:

      »Scharf und milde, grob und fein,

       Vertraut und seltsam, schmutzig und rein,

       Der Narren und Weisen Stelldichein:

       Dies Alles bin ich, will ich sein,

       Taube zugleich, Schlange und Schwein!«

       (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 11.)

      Denn wir Erkennenden, sagt er, müssen dankbar sein »gegen Gott, Teufel, Schaf und Wurm in uns,... mit Vorder- und Hinterseelen, denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuss zu Ende laufen dürfte, wir die geborenen, geschworenen, eifersüchtigen Freunde der Einsamkeit....« (Jenseits von Gut und Böse 44.) Der Erkennende hat die Seele, welche »die längste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann,... die umfänglichste Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen kann;... die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise einholt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am süssesten zuredet: ... die sich selber bebendste, in der alle Dinge ihr Strömen und Wiederströmen und Ebbe und Fluth haben....« (Also sprach Zarathustra III 82.)

      Mit solcher Seele wird man zum »Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn« (Jenseits von Gut und Böse 205), immer im Begriff, sich selbst zu entlaufen, um sich bis in fremdes Wesen hinein zu erstrecken: »Wenn man erst sich selber gefunden hat, muss man verstehen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren—und dann wieder zu finden: vorausgesetzt, dass man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachtheilig, immer an Eine Person gebunden zu sein.« (Der Wanderer und sein Schatten 306.) Das Gleiche besagen die Verse (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 33):

      »Verhasst ist mir's schon, selber mich zu führen!

       Ich liebe es, gleich Wald- und Meeresthieren,

       Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,

       In holder Irrniss grüblerisch zu hocken.

       Von ferne her mich endlich heimzulocken,

       Mich selber zu mir selber—zu verführen.«

      Das Versehen ist überschrieben »Der Einsame«, d. h. der von den Anforderungen und Kämpfen der Aussenwelt möglichst Abgeschiedene; denn kriegstüchtig nach aussen hin wird ein solches Innenleben in dem Masse immer weniger, je vollkommener es benommen und bewegt ist von den Kriegen, Siegen, Niederlagen und Eroberungen innerhalb seiner eignen Triebe. In der Einsamkeit seiner geistigen Selbstversenkung und Selbsterweiterung sucht es vielmehr eine Hülle, die es schonend behüte vor den lauten und verwundenden Lebensereignissen draussen,—steht es doch schon ohnedies in Kampf und Wunden; gilt doch von diesem Erkennenden die Schilderung:—das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen eigenen Gedanken wie von Aussen her,... als von seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird.« (Jenseits von Gut und Böse 292.)

      Denn die kriegerische Stellung der Triebe zu einander in seinem Innern ist damit nicht aufgehoben, sondern eher gesteigert: »Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade hier als inspirirende Genien (oder Dämonen und Kobolde—) ihr Spiel getrieben haben mögen, wird finden,... dass jeder Einzelne von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten Herrn aller übrigen Triebe