Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte. Marie von Ebner-Eschenbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie von Ebner-Eschenbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066116248
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und daß an den größeren Freiheiten, die sie dem Volke Galiziens gewähren werden, auch die Juden teilnehmen sollen.“

      Joseph wußte das und hoffte, der Doktor werde die Felder, wenn sie einmal vor Gott und der Welt sein Eigentum sein würden, nicht mehr in Pacht geben, sondern selbst bewirtschaften.

      „Dann wirst du Ställe und Scheuern bauen müssen,“ schloß der Jüngling. „Ich habe dem Architekten in der Stadt etwas abgesehen und die Pläne schon fertig.“

      „Bist ein Narr,“ sprach der Doktor, verlangte aber nach einigen Tagen doch die Pläne zu sehen.

      Nun, brauchbar waren sie gewiß nicht, doch als merkwürdig mußte man es gelten lassen, daß der Findling, dessen Schrift die eines siebenjährigen Kindes war, doch so nett und ordentlich und vielleicht auch in den Maßen richtig, einen Plan zu zeichnen vermochte. Das ist eben einer von denen, die tanzen können, bevor sie das Gehen erlernt haben. Es gibt solche Käuze. Sie setzen uns allerdings manchmal in Erstaunen; gewöhnlich wird aber nichts aus ihnen.

      Nathanael, der einen Gedanken, der sein eigenes Wohl und Weh betraf, nie lange verfolgte, ohne die Großmutter zu seiner Vertrauten zu machen, fragte bald darauf bei ihr an, was sie zu einer Selbstverwaltung seiner Gründe sagen würde. Da zeigte es sich, daß dieser Gegenstand zwischen der Greisin und dem Findling schon erörtert worden war.

      „Du wirst reich werden wie Laban,“ prophezeite die alte Frau. „Über dir ist des Herrn sichtbarer Segen.“

      In diesem Frühjahr hatte es sich erwiesen, in diesem für Tausende unseligen Frühjahr 1845, als die Weichsel aus ihren Ufern trat und in einen schlammigen See verwandelte, was üppig und verheißungsvoll grünende Saat gewesen war. Unaufhaltsam wie ein Gottesgericht waren die Fluten hereingebrochen, hatten die ernährende Scholle hinweggespült und mit ihr das Hab und Gut und die Hoffnung derer, die sie bebauten.

      Bis dicht an die Grenze der Felder Nathanaels erstreckte sich die Verheerung – vor ihnen zerrannen die Wellen. Vor ihnen waren die Wasser hinweggefahren und hatten sich auseinander geteilt, wie einstens die Wasser des Roten Meeres, als Moses gegen sie den Stab erhob und die Hand reckte auf Gottes Gebot.

      Und als der Herbst kam, herrschte ringsum Hungersnot. Hunderte verließen mit ihren Weibern und Kindern die Heimat und wanderten als Bettler, als Tagelöhner, Brot und Arbeit suchend, aus.

      Die Großmutter aber fragte täglich:

      „Wann beginnt die Ernte? In diesem Jahre hat der Weizen hundertfachen Wert. Wann kommen die Schnitter?“

      Nathanael erwiderte lächelnd:

      „Bald, sehr bald. Sie wetzen schon die Sensen!“

      Indessen erlebte die Greisin die Zeit der Ernte nicht mehr. Sie fiel selbst als überreifes Körnlein in den Mutterschoß der Erde zurück, bevor ihr Enkel zu ihr hatte sprechen können:

      „Die Schnitter kommen!“

      Unerhört spät und doch zu früh war plötzlich ihr Leben erloschen.

      Da lag sie nun in ihrem schmalen Sarge, die alte Rebekka, ein wundersam ergreifender Anblick. Der Tod hatte ihre gekrümmte Gestalt gestreckt, und weinend und staunend fragte Joseph:

      „So groß war sie?“

      Er fragte aber auch:

      „So schön war sie?“

      Erlöst von allen Gebresten, befreit von der Hilflosigkeit des Alters, wie majestätisch erschien sie nun, in ihrer unendlichen Ruhe, in ihrem untrübbaren Frieden! Das Lächeln auf dem Angesicht so vieler, die überwunden haben, umschwebte diese Lippen nicht. Steinerne Kälte sprach aus den Zügen, die ein Schimmer der begeisterten Liebe und Bewunderung, welche die Gegenwart des Enkels stets auf ihnen hervorgezaubert, noch in der Sterbestunde erhellt hatte.

      Du bist es nicht mehr! dachte Nathanael, und mit grauser Gewalt ergriff ihn das Bewußtsein des erlittenen Verlustes.

      Er winkte Joseph hinweg, er wollte ungestört bei seiner Toten bleiben. Am Fußende des Sarges stehend, suchte er in dem fremden, veränderten Antlitz der Großmutter das lang bekannte, teure und – fand es nicht. Das einzige ideale Gut, das er besessen hatte, die Zuneigung dieser alten Frau, war für immer dahin und er, als ein bejahrter Mann – allein. Mit jähem Schreck fiel es ihn an: Zwischen dieser Greisin und dir liegt eine Generation. Du solltest jetzt hingehen können und an der Brust deines Weibes um sie weinen, und dir Trost schöpfen aus dem Anblick deiner Kinder.

      Der rastlos Strebende, der nie zurück, der nur vorwärts geschaut hatte, nach Zielen, die mit seinen Erfolgen wuchsen, hielt einmal still in seinem Laufe, wandte sich und durchmaß im Geiste seinen ganzen Lebensweg. Viel erreicht! durfte er sich gestehen, doch niemals das geringste ohne einen Gedanken an dich – Großmutter. So freudig ihr Dasein ihn erfüllt und beglückt hatte, so schmerzlich klaffte jetzt der Riß, den ihr Scheiden verursachte.

      Sie hätte ihn nicht verlassen sollen, sie, deren Nähe ihn über das Schwinden der Zeit – eines Begriffes, der dem hohen Alter verloren geht, getäuscht hatte.

      „Weiche ab von dem Brauche unsres Volkes,“ hatte die Greisin oft gesprochen. „Heirate nicht zu früh, setze nicht Bettler in die Welt. Du kannst warten, mein Kind, du bist jung.“

      Immer hatte er zu dieser Ermahnung geschwiegen; heute antwortete er ihr, die ihn nicht mehr hören konnte:

      „Ich war dir so lange zu jung zum Freien, bis ich mir zu alt dazu geworden bin.“

      Alsbald jedoch empfand er den Widerspruch, den er ihr ins Grab nachgerufen, als einen Frevel. Er trat zu ihr, beugte sich über sie, und, was nie geschehen war, so lange sie gelebt hatte, er küßte ihre Hand, küßte ihre Stirn und den für ewig verstummten Mund, den einzigen auf Erden, von dem er sich „mein Kind“ hatte nennen gehört.

       Inhaltsverzeichnis

      Joseph beteiligte sich als Freiwilliger an den Erntearbeiten, und eines Nachmittags sah ihn Rosenzweig, der gleichgültig, als ob die Sache ihn nichts anginge, vorbeischritt, hoch oben stehen auf einem beinahe völlig beladenen Leiterwagen. Behend und kräftig schichtete er die Garben, und dem Doktor fiel es auf, daß der Bursche in der drollig weiten Jacke, die seinem Wohltäter als Rock gedient hatte, und in den viel zu kurzen Hosen doch ein bildschönes Menschenkind sei. Groß, schlank und stark, weiß und rot im Gesicht, den wohlgeformten Kopf umwallt von leicht gelocktem blonden Haar, sein ganzes Wesen Freudigkeit atmend an der Arbeit, an der Mühe, nahm er sich auf seiner stolzen Höhe ganz merkwürdig gut aus.

      Unter den auf dem Felde beschäftigten Weibern und Mädchen befand sich auch die Tochter des Pächters, dem Rosenzweig die Gründe des Pan Theophil von Kamatzki anvertraut hatte. Ein hübsches, lebhaftes Ding, die echte Masurentochter. Rosenzweig bemerkte, daß die braunen, funkelnden Augen des Mädchens und die blauen des Burschen einander gar oft begegneten, und wenn sich dann die braunen verlegen senkten, wurden sie von den blauen hartnäckig verfolgt, so hartnäckig, so kühn, daß sie sich endlich wieder erheben mußten, mit oder ohne ihren Willen.

      Die Geringschätzung, die Rosenzweig für Joseph hegte, erhielt durch diesen kleinen Vorgang neue Nahrung. Ein Mensch, zu ewiger Dienstbarkeit verurteilt durch die elende Beschaffenheit seines Kopfes, befaßt sich damit, den eines Mädchens zu verdrehen? Und in welchem Alter? In dem eines Knaben, in den Jahren, in denen der Sohn des Doktors stände, wenn der Doktor zur rechten Zeit geheiratet hätte. Was er in heroischer Selbstverleugnung so lange zu erringen säumte, bis er die Hoffnung, es zu erringen, versäumte, das Glück der Liebe, danach haschte in gedankenlosem Leichtsinn ein von fremden Gnaden lebender, unreifer Habenichts!

      Am Abend berief ihn Rosenzweig auf sein Zimmer. Das war ein so kahles und ungemütliches Gelaß, daß jeden, der es betrat, fröstelte – sogar in den Hundstagen. Die Einrichtung bestand aus einigen an die Wände gereihten Sesseln,