Der Jammer des Kindes tat der warmherzigen Professorenfrau weh. Aber es ging doch nicht an, daß all der Kram mit nach Hirschberg genommen wurde, vergeblich bemühte sich auch der Professor, das Kind auf andere Gedanken zu bringen, aber es war, als sei das kleine Kinderherz mit jedem einzigen Stücke eng verwachsen, und die Aussicht, in ein hübsches Haus, zu guten Menschen zu kommen, hatte für Pommerle nichts Verlockendes mehr.
Traurig saß es daneben, wenn ihm die Fischersleute sagten, daß es Glück habe. Der Professor sei ein reicher, feiner Herr, und Pommerle würde schöne Kleider bekommen.
Das Kind blickte stumm auf sein derbes Röckchen und dann wieder sehnsüchtig hinaus auf die weite wogende Wasserfläche.
So kam der Tag heran, an dem Pommerle von seiner Heimat scheiden mußte. Der Wagen stand vor der Tür, die Koffer und Pommerles Korb wurden aufgeladen, eine Reihe Fischersleute waren gekommen, um dem Kinde nochmals die Hand zu drücken.
Berta hatte das Gesicht mit der Schürze verdeckt, es ging ihr doch nahe, das kleine Mädchen fortgeben zu müssen.
Das rotwangige Mädchen aber war merkwürdig blaß. Noch konnte es nicht ganz ermessen, was es heißt, das Vaterhaus zu verlassen, aber ein dumpfes Wehgefühl war in ihm und ein Bangen vor der Zukunft.
Da stand es nun vor der Tür des kleinen Hauses und ließ sich abschiednehmend die Hände drücken. Es sah keinen an, schaute nur hinaus auf das Meer, das heute wieder gar wild und erregt war. Rief nicht jede Welle, die sich überstürzend auf den Strand ergoß, ihm einen Abschiedsgruß zu?
Und plötzlich schrie Pommerle laut auf. Es war ein einziger schriller Schrei, in dem alle Qual dieses Kinderherzens lag. Der Professor nahm das Kind fest in die Arme.
»So, mein kleines Pommerle, nun steige ein, und jetzt machen wir eine Wagenfahrt, und dann geht es mit der Eisenbahn weiter.«
Pommerle ließ sich in den Wagen heben und schaute dabei unverwandt auf die See. Nun setzte sich auch Frau Bender neben das Kind, man gab dem Kutscher ein Zeichen, der Wagen rollte davon. Die Zurückbleibenden riefen noch unzählige gute Wünsche nach.
Das Kind saß starren Blickes neben seinen Wohltätern, nur von Zeit zu Zeit bewegten sich die Lippen, aber kein Wort war vernehmbar.
Frau Bender versuchte unterwegs die Gedanken des Kindes in andere Bahnen zu lenken, erzählte heitere Geschichten und wurde ganz plötzlich von der Frage unterbrochen:
»Aber wenn man auf einen hohen Berg steigt, sieht man dann die See, Tante Bender?«
»Nein, mein liebes Pommerle, aber viele grüne Täler, viele freundliche Dörfer, und der Himmel ist einem viel näher als hier.«
»Und gar keine See?«
»Hübsche Teiche haben wir, o, kleines Mädchen, es wird dir bei uns gefallen. Du siehst etwas ganz Neues.«
Pommerle fragte nichts mehr. Nur die kleinen Hände hatten sich fest ineinander gekrampft, es schluckte mehrmals krampfhaft und ließ hin und wieder einen leisen Seufzer hören.
Erst die Bahnfahrt ließ Pommerle ein wenig froher werden. Da flogen die Bäume, die Telegraphenstangen an den Fenstern vorüber, da sah man auf den Wiesen Rinder und Schafherden weiden. Bald hier, bald dort tauchte ein Kirchturm auf, und schließlich war eine große Stadt erreicht, in der sich Haus an Haus reihte.
Pommerle klammerte sich fest an Frau Bender, als man den Wartesaal betrat, um dort einen Imbiß einzunehmen. Ihm wurde ordentlich angst, hier zwischen den vielen Menschen, aber als es sich dann selbst auswählen durfte, was es essen wollte, fiel die Angst doch ein wenig von ihm ab.
Professor Bender las die Speisekarte von oben bis unten vor und gab Pommerle die nötigen Erklärungen.
»Nun,« sagte et schließlich lachend, »was willst du nun haben?«
»Kann ich sagen, was ich will?«
»Natürlich.«
Da beugte sich Pommerle ein wenig zum Ohr des Professors und flüsterte, indem sich das blasse Gesichtchen ein wenig rötete:
»Kartoffeln mit Flundern.«
Die gab es nun freilich nicht auf der Speisekarte, und es dauerte längere Zeit, ehe man Pommerle davon überzeugt hatte, daß Kalbsbraten viel besser schmecke als Flundern.
Dann ging die Reise weiter. Stundenlang fuhr man durch Wälder und Felder, kam durch Städte und Dörfer, bis Frau Bender endlich erklärte, nun sei man schon in Schlesien. Neugierig steckte das kleine Mädchen den Kopf zum Fenster hinaus. Es schaute rechts und links, konnte aber nichts Neues an Schlesien entdecken.
»Wo ist denn Schlesien?«
Wieder mußte der Professor erklären, daß Schlesien genau solch eine Provinz sei wie Pommern, daß sie aber statt der See hohe Berge habe.
»Wenn wir noch einige Stunden weiter gefahren sind, wirst du die Berge sehen.«
Man hatte Görlitz erreicht. Die Bergkette des Riesengebirges zeigte sich verschwommen am Horizonte.
»Schau einmal, keines Pommerle, das da hinten ist das Riesengebirge.«
»Leben darin Riesen?«
»Nein, aber freundliche Menschen.«
»Und ein Rübezahl,« setzte der Professor lachend hinzu. »Das ist ein guter Berggeist, der tief in den Bergen wohnt und allen guten Kindern gern hilft.«
Je mehr man sich den Bergen näherte, um so größer wurden die blauen Kinderaugen. So hohe Berge hatte Pommerle freilich noch nicht gesehen.
»Kann man da hinaufgehen?«
»Freilich kann man das.«
Pommerle staunte die Bergriesen an.
Sie reichten schier bis in die Wolken hinein, Wenn man dort ganz oben stand, auf der höchsten Spitze, mußte man ja einen Blick in den Himmel tun können. Man mußte aber auch über alle die Häuser, ja sogar über die höchsten Kirchtürme hinwegsehen können, und vielleicht sah man von dort oben doch ganz weit hinten die See.
»Fahren wir dort hinauf?«
»O nein, mein Kind, wir wohnen unten im Tale, in Hirschberg, einer großen Stadt, aber man kann sehr leicht zu den Bergen gelangen. Und wenn du erst ein wenig von der Reise ausgeruht bist, steigen wir einmal auf den Kynast oder zur Bismarckhöhe.«
So war für die nächsten Augenblicke Pommerles Kummer vergessen, denn all das Neue wirkte stark auf das Kindergemüt. Und als man nun gar im Wagen durch das freundliche Hirschberg fuhr, dessen Häuser fast alle anmutige Vorgärten hatten, konnte Pommerle sogar jauchzen und lachen.
Vor einem entzückenden Landhause hielt der Wagen an.
»So, Pommerle, hier wohnen wir.«
»In dem feinen Schloß?«
»Jawohl. Und in dem Garten darfst du Blumen pflanzen und graben nach Herzenslust.«
Aufgeregt lief das kleine Mädchen durch den Vorgarten. Im Hause huschte es in alle Winkel, schaute mit neugierigen Augen in jedes Zimmer, eilte hin zu den Fenstern, blickte hinauf zu den Bergen und strahlte über das ganze Gesichtchen. Die pommersche Heimat war für Augenblicke versunken.
Frau Bender hatte dem Hausmädchen, das während der Abwesenheit des Professorenpaares das Landhaus verwaltete, bereits schriftlich mitgeteilt, daß man ein kleines Mädchen mitbringe, und so war für das Notwendigste bereits gesorgt. Für Pommerle hatte man ein neues Bettchen beschafft, das Anna, das Mädchen, in das Schlafzimmer des Benderschen Ehepaares gestellt hatte. Das bisherige Nähzimmer sollte für Pommerle als Kinderzimmer hergerichtet werden, denn gerade im Anfange seines neuen Lebens sollte sich die Kleine recht wohl und behaglich fühlen.
Pommerle wußte gar nicht, wohin es zuerst schauen sollte. Was gab es hier nicht alles für neue Dinge,