EINLEITUNG
»Zu Ehren von Ernest Shackleton erhebe ich mein Glas. Mögen seine Taten unvergessen bleiben und seine Willensstärke uns ein Vorbild sein.« Der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes leert ein Schnapsglas über Shackletons Grab auf dem Friedhof von Grytviken auf Südgeorgien aus, dann kreist die Flasche mit Rum unter den umstehenden Passagieren. Jahr für Jahr reisen zahlungskräftige Touristen zur Antarktischen Halbinsel, um fassungslos einen Blick auf Elephant Island zu werfen, eine kleine felsige Insel im Norden der South Shetland Islands. Hier brach Shackleton mit fünf Männern in einem kleinen Rettungsboot auf, um für seine gestrandeten Kameraden von der nächstgelegenen bewohnten Walfangstation auf Südgeorgien Hilfe zu holen. Dafür musste er eine Entfernung von rund 1500 km über die stürmischste Region des Südatlantiks zurücklegen. Eine Großtat, die man sich heute gar nicht mehr recht vorstellen kann, aber Shackleton hatte es tatsächlich mit letzter Kraft geschafft. Dafür ist er heute unvergessen, und deshalb stellen sowohl Elephant Island als auch der Friedhof von Grytviken besondere Anziehungspunkte für Kreuzfahrten dar, welche die großartige Natur der Antarktis mit den Abenteuern aus der heroischen Ära der Polarforschung verbinden. Wer war Ernest Shackleton und wie kam es, dass er nach der Veröffentlichung von Caroline Alexanders Buch über seine legendäre Antarktisexpedition und der von ihr 1999 kuratierten Ausstellung »Endurance: Shackleton’s Legendary Expedition« im American Museum of Natural History in New York heute ein größeres Ansehen hat als der Brite Robert Falcon Scott, der als Verlierer auf dem Rückweg vom Südpol zusammen mit vier Kameraden heldenhaft starb?
Ernest Shackleton wurde am 15. Februar 1874 in Kilkea (County Kildare, Irland) als zweites Kind in die Familie eines Grundbesitzers geboren. Er hatte acht Schwestern und einen um zwei Jahre jüngeren Bruder. Als in Irland die Erträge aus den Kartoffelernten massiv zurückgingen, beschloss sein Vater gemäß dem Familienspruch »Fortitudine Vincimus« (»Durch Ausdauer zum Sieg«) einen Neuanfang zu machen. So zog er mit der Familie erst nach Dublin, um Medizin zu studieren, und ließ sich dann später in Sydenham, einem Vorort südöstlich von London, nieder. Anstatt dem Wunsch seines Vaters zu folgen, auch ein Medizinstudium zu ergreifen, wollte Ernest viel lieber die Welt sehen und Kapitän werden. Deshalb verließ er im Alter von 16 Jahren das renommierte Dulwich College in London, um in der Handelsmarine seine Ausbildung zu beginnen. Nach acht Jahren erhielt er 1898 das Kapitänspatent, aber die Handelsschifffahrt war trotz der Fernreisen längst nicht so attraktiv, wie gedacht. Shackleton begann nun, sich für Entdeckungsreisen zu interessieren, die wesentlich interessanter und lukrativer erschienen. Auf sein Betreiben hin wurde er 1899 in die Royal Geographical Society aufgenommen, deren Präsident Clements Markham gerade dabei war, eine Südpolarexpedition vorzubereiten. Durch Beziehungen gelang es Shackleton tatsächlich, zwei Tage nach seinem 27. Geburtstag als dritter Offizier auf dem Expeditionsschiff »Discovery« anzuheuern, die unter der Leitung des Marineoffiziers Robert Falcon Scott zur Antarktis segeln sollte.
INTERNATIONALE ZUSAMMENARBEIT IN DER ANTARKTIS (1901–1903)
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Natur der Antarktis noch völlig unbekannt. Handelte es sich um einen mit Eis bedeckten Kontinent oder wie die Arktis um ein Eismeer, das von Inseln umgeben war? 1895 hatten sich die Geographen zum VI. Internationalen Geographenkongress in London versammelt und beschlossen, bis zur Jahrhundertwende den letzten weißen Fleck auf der Erde zu erforschen. Die belgische Expedition (1897–1899) unter der Leitung von Adrien de Gerlache war die erste, die diesem Aufruf folgte. An Bord der »Belgica« erkundete Gerlache die Inseln westlich der Antarktischen Halbinsel, wo er schließlich bei Peter I. Island ungeplant für zwölf Monate vom Eis eingeschlossen die erste Überwinterung südlich des Polarkreises durchführte. Die nächste von Carsten Borchgrevink in England privat ausgerüstete Expedition überwinterte 1899 auf Cape Adare in Victoria Land erstmals an Land. Beide Expeditionen brachten zwar äußerst interessante Ergebnisse von der Überwinterung nach Hause, konnten aber keineswegs die Millenniumsaufgabe der Geographen lösen. Nachdem abzusehen war, dass unabhängig voneinander agierende Expeditionen wenig Erfolg versprechend waren, wurde 1899 auf dem VII. Internationalen Geographenkongress in Berlin eine internationale meteorologische und magnetische Kooperation für die Jahre 1901 bis 1903 beschlossen. Vorbild war das Internationale Polarjahr, in dem von August 1882 bis August 1883 insgesamt an zwölf temporär eingerichteten Stationen rund um die Arktis meteorologische und magnetische Messungen durchgeführt wurden. Diesem Vorbild folgend beteiligten sich trotz aller damals bestehenden politischen Rivalität die britische Expedition auf der »Discovery« (1901–1904) unter der Leitung von Scott zum Rossmeer und die deutsche Südpolarexpedition (1901–1903) unter der Leitung von Erich von Drysgalski, die im Südindischen Ozean am Südpolarkreis bei 90° O auf der »Gauß« ein Jahr lang ortsfest eingefroren wurde. Der schwedischen Expedition, die unter der Leitung von Otto Nordenskjöld auf der »Antarctic« (1901–1903) zur Antarktischen Halbinsel führte, erging es hingegen nicht so gut. Eigentlich hätte sie Nordenskjöld und fünf Kameraden, die 1902 planmäßig auf Snow Hill Island überwintert hatten, abholen sollen, konnte aber wegen der schlechten Eislage nicht dorthin gelangen. Stattdessen wurden drei Männer ausgesetzt, die über Land und Eis zu ihnen vordringen sollten. Die Wetterbedingungen zwangen sie aber, mit minimaler Ausrüstung in Hope Bay an der Spitze der Antarktischen Halbinsel zu überwintern. Als dann die »Antarctic« 1903 erneut nach Snow Hill Island unterwegs war, wurde sie vom Eis eingeschlossen, zerdrückt und ging unter. Die zwanzigköpfige Mannschaft musste sich nun ihrerseits auf die nächstgelegene Paulet Island retten.
An der internationalen Kooperation beteiligte sich außerdem noch die schottische Expedition auf der »Scotia« (1902–1904) unter der Leitung von William Speirs Bruce, die ins östliche Weddellmeer ging. Bevor Bruce in die Heimat zurückkehrte, übergab er seine meteorologische Station auf Laurie Island, einer der South Orkney Islands, dem argentinischen Wetterdienst und begründete damit die älteste kontinuierlich arbeitende Wetterstation in der Subantarktis. Schließlich folgte noch eine französische Expedition auf der »Français« (1903–1905) unter der Leitung von Jean-Baptiste Charcot zur Antarktischen Halbinsel, die ursprünglich der schwedischen Expedition zur Hilfe kommen wollte.
Diese fünf Expeditionen waren für manche Wissenschaftler und Offiziere Sprungbretter für eine große Karriere. Auch auf ihre erfahrenen Seeleute wurde immer wieder gerne zurückgegriffen. Zum Beispiel gründete Nordenskjölds Kapitän Carl Anton Larsen die erste Walfangstation auf Südgeorgien, während Roald Amundsen auf der »Belgica« quasi in die Lehre ging, bevor er seine erste eigene Expedition (1903–1906) durch die Nordwestpassage führte. Und Shackleton sammelte auf Scotts erster Expedition Erfahrungen in der Antarktis, als ihn Scott beauftragte, zusammen mit dem Arzt Edward Wilson und dem Geologen Hartley Ferrar von der Station am Fuß des Vulkans Mt. Erebus auf Ross Island eine Route über das Rossschelfeis in Richtung Südpol zu finden. Danach begleitete er Scott und Wilson auf der ersten Schlittenreise nach Süden, wo sie am 30. Dezember bei 82° 17' S den südlichsten Punkt erreichten. Auf ihrer viermonatigen Tour machte sich unangenehm bemerkbar, dass keiner von ihnen mit Hundeschlitten umgehen konnte. Zudem hatten sie teilweise verdorbenen Trockenfisch als einziges Hundefutter dabei, das aber nicht alle Zugtiere vertrugen, sondern davon erkrankten und starben. Am Ende kehrte keiner der 22 Hunde zum Ausgangspunkt zurück. Auch die Männer hatten große Probleme, denn sie litten vorübergehend unter Schneeblindheit, bekamen unangenehme Erfrierungen und Skorbut. Shackleton war von dieser Vitamin-C-Mangelkrankheit besonders betroffen. Zudem hustete er stark, war kurzatmig und konnte am Schluss den Schlitten nicht mehr ziehen. Auch gab es unterwegs starke Differenzen zwischen ihm und Scott, deren Ursache wohl in seiner Beliebtheit bei allen Expeditionsteilnehmern lag, die Scott als Expeditionsleiter mit seiner weniger einnehmenden Persönlichkeit nie erreichen konnte. Dies hatte zur Folge, dass Scott seinen Konkurrenten Anfang März 1903 angeblich