So ist zur Entwirrung dieser unlöslichen Widersprüche, oder vielmehr um sie uns selbst offenbar zu machen, wirklich viel Geist und besondere Begabung erforderlich. Um aber das Gesetz unseres Lebens kennen zu lernen, oder, wie Sie es ausdrücken, um unseren Glauben zum vollen Bewußtsein zu entwickeln, sind keinerlei besondere Geistesgaben erforderlich – es genügt, nichts zuzugeben, was dem Verstand widerspricht, den Verstand nicht zu verleugnen, denselben sorgfältig zu hüten und nur ihm zu glauben.
Wenn der Sinn des Lebens ihm unklar erscheint, so beweist das nicht, daß der Verstand zur Klarstellung dieses Sinnes nicht geeignet sei, sondern nur, daß schon zu viel Unvernünftiges geglaubt wird und daß man alles das wegwerfen muß, was nicht vom Verstand bestätigt wird.
Und darum kann meine Antwort auf Ihre Grundfrage – ob man nach voller Erkenntnis in seinem inneren Leben streben soll – nur so lauten, daß das die notwendigste und wichtigste Sache ist, die wir in unserem Leben vollbringen können. Notwendig und wichtig ist sie deshalb, weil der einzige vernünftige Sinn unseres Lebens in der Erfüllung des Willens dessen besteht, der uns in dieses Leben gesandt hat. Den Willen Gottes aber erkennt man nicht durch irgend ein Wunder, wie die Niederschrift des Gesetzes auf Steintafeln durch den Finger Gottes oder die Abfassung – eines unfehlbaren Buchs durch den heiligen Geist, oder die Unfehlbarkeit irgend einer heiligen Person oder einer Versammlung von Menschen, sondern nur durch die geistige Thätigkeit aller Menschen, welche einander durch Wort und That ihre sich immer mehr aufklärende Erkenntnis der Wahrheit überliefern.
Diese Erkenntnis ist niemals vollständig gewesen, noch wird sie es sein, vergrößert sich aber beständig in dem Maße, wie das Leben der Menschheit fortschreitet: je länger wir leben, desto klarer und vollständiger erkennen wir den Willen Gottes und folglich auch das, was wir thun sollen, um ihn zu erfüllen.
Und darum glaube ich, daß es Aufgabe eines jeden Menschen ist (so unbedeutend er uns auch erscheinen mag, denn auch Kleine sind zuweilen groß), an der Aufklärung aller jener religiösen Wahrheiten, die ihm zugänglich sind, mitzuarbeiten, sowie an dem Ausdruck derselben in Worten (da der Ausdruck in Worten das einzige unzweifelhafte Anzeichen für die volle Klarheit des Gedankens ist), und daß dies eine der wichtigsten und heiligsten Pflichten jedes Menschen ist.
26. November 1894.
L. Tolstoi.
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