Damit ist nun noch nicht jeder Gesichtspunkt erschöpft. Vor allem sind Spiele auch eine Betätigung des Gemeinschaftsgefühls, das beim Kind so groß ist, daß es unter allen Umständen darin seine Befriedigung sucht und mächtig davon angezogen wird. Kinder, die dem Spiel ausweichen, sind immer eines Fehlschlages verdächtig. Es sind das solche, die sich gern zurückziehen und, wenn sie mit andern zusammengebracht werden, gewöhnlich nur Spielverderber sind. Hochmut, mangelhafte Selbsteinschätzung und demzufolge Furcht, seine Rolle schlecht zu spielen, sind die Hauptgründe hierfür. Im allgemeinen wird man das Maß des Gemeinschaftsgefühls bei Kindern mit großer Sicherheit bei ihren Spielen bestimmen können.
Ein anderer Faktor, der im Spiel sehr deutlich in Erscheinung tritt, ist das Ziel der Überlegenheit, das sich in der Neigung zum Befehlen, zum Herrschen verraten wird. Man wird dies daran erkennen, ob und wie sich das Kind vordrängt und inwiefern es Spiele bevorzugt, die ihm Gelegenheit geben, solche Neigungen zu befriedigen und eine herrschende Rolle zu spielen. Man wird wenig Spiele finden, die nicht wenigstens einem dieser drei Faktoren, Vorbereitung für das Leben, Gemeinschaftsgefühl und Herrschsucht, Rechnung tragen.
Es gibt aber noch einen weiteren Faktor, der dem Spiel anhaftet. Das ist die Möglichkeit für das Kind, sich spielerisch zu betätigen. Im Spiel ist das Kind mehr oder weniger auf sich selbst gestellt und seine Leistungen sind im Zusammenhang mit den andern durch das Spiel erzwungen. Es gibt eine große Anzahl Spiele, die gerade das schöpferische Moment in den Vordergrund rücken. Besonders die Spiele, die dem Kind ein großes Feld zur Betätigung ihres schöpferischen Hanges bieten, bergen ein für den zukünftigen Reruf bedeutsames Element in sich. Und es ist sicher in der Lebensgegeschichte vieler Menschen vorgekommen, daß sie z. B. zuerst Kleider für Puppen machten und später für Erwachsene.
Das Spiel ist untrennbar mit der seelischen Entwicklung des Kindes verbunden. Es ist sozusagen seine Berufstätigkeit und auch so aufzufassen. Daher ist es auch keine so harmlose Sache, ein Kind in seinem Spiel zu stören. Das Spiel darf nicht als ein Vertrödeln der Zeit aufgefaßt werden. Mit Rücksicht auf das Ziel einer Vorbereitung für die Zukunft steckt in jedem Kind schon etwas von einem Erwachsenen, den es einmal vorstellen wird. Daher ist es für uns eine wichtige Erleichterung bei der Beurteilung eines Menschen, auch seine Kindheit kennenzulernen.
2. Aufmerksamkeit und Zerstreutheit
Eine Fähigkeit des seelischen Organs, die im Vordergrund der Leistungsfähigkeit eines Menschen steht, ist die Aufmerksamkeit. Wenn wir unsere Sinnesorgane aufmerksam mit einem Vorgang außer- oder innerhalb unserer Person in Beziehung bringen, dann haben wir das Gefühl einer besonderen Anspannung, und zwar einer solchen, die nicht über den ganzen Körper verbreitet, sondern auf ein bestimmtes Sinnesgebiet, z. B. auf das Auge, beschränkt ist. Wir haben das Gefühl, als ob hier etwas in Vorbereitung wäre. In der Tat kann man feststellen, daß es sich hierbei um Bewegungsvorgänge (in unserem Fall Richtung der Augenachsen) handelt, die uns die Empfindung dieser besonderen Anspannung verleihen. Wenn nun die Leistung der Aufmerksamkeit eine Spannung auf einem bestimmten Gebiet des seelischen Organs und unseres Bewegungsorganismus hervorruft, so ist damit gleichzeitig gesagt, daß andere Spannungen abgehalten werden sollen. So erklärt es sich, daß wir, sobald wir uns aufmerksam einer Sache widmen, jede Störung beiseiteschieben wollen. Die Aufmerksamkeit bedeutet also für das seelische Organ eine Bereitschaftsstellung, eine ganz spezielle Verknüpfung mit Tatsachen, die Vorbereitung zu einem Angriff oder zu einer Abwehrbewegung, die uns aus einer Not erwächst, aus einer ungewöhnlichen Situation, bei der unsere ganze Kraft in den Dienst eines besonderen Zweckes gestellt werden soll.
Die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit besitzt jeder Mensch, es sei denn, daß er krank oder geistig minderwertig sei. Dennoch geschieht es oft, daß man bei einem Menschen die Aufmerksamkeit vermißt. Hierfür gibt es eine Anzahl Gründe. Zunächst sind Müdigkeit oder Krankheit Faktoren, die die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu entfalten, beeinträchtigen. Ferner gibt es Menschen, deren mangelhafte Aufmerksamkeit darin ihren Grund hat, daß sie gar nicht aufmerken wollen, weil der Gegenstand, auf den sie aufmerken sollen, nicht zu ihrer Lebenseinstellung, zu ihrer Bewegungslinie paßt. Dagegen wird ihre Aufmerksamkeit sofort wach, wenn es sich um eine Angelegenheit handelt, die irgendwie mit ihrer Lebenslinie zusammenhängt. Ein weiterer Grund mangelnder Aufmerksamkeit kann in einem Hang zur Opposition gelegen sein. Kinder sind zur Opposition überaus leicht geneigt und es kommt vor, daß solche Kinder jede Anregung, die man ihnen bietet, mit einem Nein beantworten. Hierbei müssen sie ihre Opposition nicht geradezu zur Schau tragen. In solchen Fällen ist es Sache der Unterrichtsmethode und des erzieherischen Taktes, die Verknüpfung des Lehrgegenstandes mit dem unbewußten Lebensplan, der Leitlinie des Kindes herzustellen, das Kind sozusagen damit auszusöhnen.
Es gibt auch Menschen, die alles sehen und hören, die jede Erscheinung, jede Veränderung wahrnehmen. Andere stehen der Welt gleichsam nur mit ihrem Sehapparat gegenüber, wieder andere nur mit ihrem Hörapparat; diese sehen gar nichts, nehmen von nichts Notiz und sind nicht zu haben, solange es sich um sehbare Dinge handelt. Auch das sind Gründe dafür, daß man so oft eine Aufmerksamkeit dort vermißt, wo man sie eigentlich erwarten müßte.
Der wichtigste Faktor zur Erweckung der Aufmerksamkeit ist ein wirklich tief begründetes Interesse. Dasselbe liegt in einer viel tieferen seelischen Schichtung als die Aufmerksamkeit. Ist Interesse vorhanden, dann ist Aufmerksamkeit eine Selbstverständlichkeit, auf die die Erziehung keinerlei Einfluß zu nehmen braucht. Sie ist das bloße Mittel, sich eines Gebietes, für das man Interesse hat, zu einem bestimmten Zweck zu bemächtigen. Da nun die Entwicklung eines Menschen nicht fehlerlos vor sich geht, geschieht es regelmäßig, daß sie auf irrtümlichen Wegen wandelt. Von dieser irrtümlichen Einstellung eines Menschen wird selbstverständlich auch sein Interesse mitergriffen werden, so daß sich dieses auf Dinge richten kann, die mit Rücksicht auf die Vorbereitung auf das Leben nicht bedeutsam sind. Ist so das Interesse eines Menschen z. B. zu sehr auf die eigene Person gerichtet, insbesondere auf die Macht, die er besitzt, so wird sich zeigen, daß er überall aufmerksam ist, wo sein Machtinteresse berührt ist, sei es, daß für ihn etwas zu gewinnen oder daß- seine Macht bedroht ist. Andernfalls wird seine Aufmerksamkeit so lange nicht zu fesseln sein, als nicht an die Stelle seines Machtinteresses ein anderes Interesse getreten ist. Besonders bei Kindern kann man deutlich beobachten, wie sie sofort aufmerksam werden, wenn es sich für sie darum handelt, Geltung zu gewinnen, daß aber ihre Aufmerksamkeit rasch erlischt, wenn sie die Empfindung haben, daß für sie nichts zu holen ist. Hier können die mannigfachsten Zusammenhänge und Merkwürdigkeiten auftreten.
Mangel an Aufmerksamkeit sagt eigentlich nichts anderes, als daß sich ein Mensch einer Angelegenheit, für die seine Aufmerksamkeit erwartet wird, lieber entziehen will. Die Ablenkung der Aufmerksamkeit wird dadurch bewerkstelligt, daß man sie einfach auf etwas anderes lenkt. Es ist daher eine Unrichtigkeit, zu sagen, es könne sich jemand nicht »konzentrieren«. Es wird sich immer herausstellen, daß er das sehr gut kann, nur in bezug auf etwas anderes. Ähnlich wie mit dem Konzentrationsmangel verhält es sich in Fällen der sog. Willen- oder Energielosigkeit. Auch hier findet man meist einen recht unbeugsamen Willen und eine ebensolche Energie, aber nach einer anderen Richtung.
Die Behandlung solcher Fälle ist nicht leicht. Sie kann nur dadurch vorgenommen werden, daß man den ganzen Lebensplan eines solchen Menschen aufdeckt. In jedem Fall kann man annehmen, daß ein Mangel nur deshalb vorliegt, weil etwas anderes angestrebt wird.
Unaufmerksamkeit wird bei vielen Menschen zu einem ständigen Charakterzug. Sehr oft trifft man Menschen, denen eine bestimmte Arbeit zugewiesen ist, die aber von ihnen in irgendeiner Weise abgelehnt oder mangelhaft geleistet wird, so daß diese Menschen dann anderen zur Last fallen. Ihr ständiger Charakterzug ist die Unaufmerksamkeit, die sich einstellt, sobald sie sich der Tätigkeit zuwenden sollen, die von ihnen verlangt wird.
3. Fahrlässigkeit und Vergesslichkeit