Ein anderer Traum lautete: »Es war mir, als ob ich auf der Suche nach meinem dritten Kind gewesen wäre, das verloren oder geraubt worden war. Ich war in großer Angst. Alle meine angestrengten Versuche blieben vergeblich.« Da der Mann kein drittes Kind besaß, war es klar, daß er die stete Angst hatte, ein drittes Kind wäre wegen der Unfähigkeit der Frau, die Kinder zu überwachen, in größter Gefahr. Der Traum war kurz nach dem Raub des Lindbergh-Kindes geträumt und zeigte das gleiche, exogene Schockproblem entsprechend dem Lebensstil und der Meinung des Patienten; Abbruch der Beziehungen mit einem Menschen, der keine Wärme bot und als einen Teil dieses Vorsatzes, keine Kinder mehr zu zeugen, unter übertriebener Betonung der Nachlässigkeit der Frau, aber in die gleiche Richtung zielend wie der erste Traum: übertriebener Schrecken vor dem Geburtsakt.
Der Patient kam zur Behandlung wegen Impotenz. Die weiteren Spuren führten in seine Kindheit zurück, in der er gelernt hatte, sich gegen Zurücksetzung nach längeren angestrengten Versuchen mit Ablehnung der als kühl geglaubten Person abzufinden, gleichzeitig auch neue Geburten bei seiner Mutter unerträglich zu finden. Der Hauptanteil seines Lebensstiles, die Auslese gewisser Bilder, der Selbstbetrug und die Autointoxikation mit Vergleichen, weit über die praktische Vernunft hinausgehend und dem Lebensstil neue Spannkraft und erhöhte Stärke verleihend, der aus der dauernden Schockwirkung resultierende Rückzug von der Lebensfrage, mehr erschlichen als im Sinne des Common sense erarbeitet, die unvollkommene, der Weichheit dieses Mannes entsprechende halbe Lösung seines Problems sind nicht zu verkennen und klar in ihrem Zusammenhang zu sehen.
Wenn noch ein kurzes Wort über jenes Thema gesagt werden soll, das als Freuds Symbolik im Traum beschrieben ist, so kann ich aus meiner Erfahrung folgendes mitteilen: Es ist richtig, daß seit jeher die Menschen eine Neigung zeigten, nicht nur sexuelle Vorgänge und Dinge mit Tatsachen des praktischen Lebens scherzweise zu vergleichen. An Wirtshaustischen und in Zoten geschah das wohl immer. Die Verlockung dazu liegt wohl zum großen Teil darin, neben herabsetzender Tendenz, Witzelsucht und Großsprecherei auch dem aus dem Symbol geholten emotionellen Akzent Raum zu geben. Es bedarf nicht viel an Geist, um diese gebräuchlichen Symbole, die sich in der Folklore und in Gassenhauern finden, zu verstehen. Daß sie freilich immer zu bestimmten, erst zu findenden Zwecken im Traume auftreten, ist wichtiger. Es ist das Verdienst Freuds, darauf aufmerksam gemacht zu haben. Aber alles, was man nicht versteht, als sexuelles Symbol zu erklären, um dann zu finden, daß alles aus der Sexuallibido stammt, hält einer vernünftigen Kritik nicht stand. Auch die sogenannten »beweisenden Erfahrungen« mit Personen in der Hypnose, denen zuerst suggeriert wurde, sexuelle Szenen zu träumen, und aus deren Mitteilungen dann gefunden wurde, daß auch sie in Freudschen Symbolen träumen, sind recht schwache Beweise. Es zeugt höchstens von natürlichem Schamgefühl, daß diese Personen die ihnen geläufigen Symbole an Stelle unverhüllter Sexualausdrücke wählen. Dazu kommt, daß es heute einem Freud-Schüler schwer sein wird, jemanden zu solchen Experimenten zu finden, ohne daß der Hypnotisierte wüßte, mit wem er es zu tun hat. Ganz abgesehen davon, daß die »Freudsche Symbolik« den Sprachschatz des Volkes ungemein bereichert und die Unbefangenheit bei Betrachtung von sonst harmlosen Dingen gründlich zerstört hat. Man kann auch oft bei Patienten, die früher in einer psychoanalytischen Behandlung gestanden sind, beobachten, daß sie in ihren Träumen von der Freudschen Symbolik einen ausgebreiteten Gebrauch machen. Meine Widerlegung würde noch stärker ausfallen, wenn ich wie Freud an Telepathie glauben und annehmen könnte, wie es auch seine seichten Vorläufer getan haben, daß Gedankenübertragung sich wie ein Radiovortrag abspielt. Dieses Gegenargument fällt demnach für mich weg.
15. Der Sinn des Lebens
Nach einem Sinn des Lebens zu fragen hat nur Wert und Bedeutung, wenn man das Bezugsystem Mensch-Kosmos im Auge hat. Es ist dabei leicht einzusehen, daß der Kosmos in dieser Bezogenheit eine formende Kraft besitzt. Der Kosmos ist sozusagen der Vater alles Lebenden. Und alles Leben ist ständig im Ringen begriffen, um den Anforderungen des Kosmos zu genügen. Nicht so, als ob da ein Trieb bestünde, der später im Leben imstande wäre, alles zu Ende zu führen, der sich nur zu entfalten brauchte, sondern angeboren als etwas, was dem Leben angehört, ein Streben, ein Drang, ein Sichentwickeln, ein Etwas, ohne das man sich Leben überhaupt nicht vorstellen kann. Leben heißt sich entwickeln. Der menschliche Geist ist nur allzu sehr gewöhnt, alles Fließende in eine Form zu bringen, nicht die Bewegung, sondern die gefrorene Bewegung zu betrachten, Bewegung, die Form geworden ist. Wir Individualpsychologen sind seit jeher auf dem Weg, was wir als Form erfassen, in Bewegung aufzulösen. Daß der fertige Mensch aus einer Eizelle stammt, weiß jeder; er soll aber auch richtig verstehen, daß in dieser Eizelle Fundamente für die Entwicklung liegen. Wie das Leben auf die Erde gekommen ist, ist eine zweifelhafte Sache, eine endgültige Lösung werden wir vielleicht niemals finden.
Die Entwicklung des Lebenden aus einer winzigen lebenden Einheit konnte nur unter Billigung des kosmischen Einflusses geschehen. Wir können daran denken, wie zum Beispiel der geniale Versuch Smuts es getan hat, anzunehmen, daß Leben auch in der toten Materie besteht, eine Auffassung, die uns durch die moderne Physik sehr nahegelegt wird, wo gezeigt wird, wie die Elektronen sich um das Proton bewegen. Ob diese Auffassung auch weiterhin recht behalten wird, wissen wir nicht; sicher ist, daß unser Begriff vom Leben nicht mehr angezweifelt werden kann, daß damit auch gleichzeitig Bewegung festgestellt ist, Bewegung, die nach Selbsterhaltung geht, nach Vermehrung, nach Kontakt mit der Außenwelt, nach siegreichem Kontakt, um nicht unterzugehen. Im Lichte, das Darwin angesteckt hat, verstehen wir die Auslese alles dessen, das den äußeren Forderungen gerecht werden konnte. Die Anschauung Lamarcks, die der unseren noch nähersteht, gibt uns Hinweise auf die schöpferische Kraft, die in jedem Lebewesen verankert ist. Die Gesamttatsache der schöpferischen Evolution alles Lebenden kann uns darüber belehren, daß der Richtung der Entwicklung bei jeder Species ein Ziel gesetzt ist, das Ziel der Vollkommenheit, der aktiven Anpassung an die kosmischen Forderungen.
An diesen Weg der Entwicklung, einer fortwährenden aktiven Anpassung an die Forderungen der Außenwelt müssen wir anknüpfen, wenn wir verstehen wollen, in welche Richtung Leben geht und sich bewegt. Wir müssen daran denken, daß es sich hier um Ursprüngliches handelt, das dem ursprünglichen Leben angehaftet hat. Immer handelt es sich um Überwindung, immer um den Bestand des Individuums, der menschlichen Rasse, immer handelt es sich darum, eine günstige Beziehung herzustellen von Individuum und Außenwelt. Dieser Zwang, die bessere Anpassung durchzuführen, kann niemals enden. Ich habe diesen Gedanken bereits im Jahre 1902 entwickelt und scharf darauf hingewiesen, daß das Verfehlen dieser aktiven Anpassung durch diese »Wahrheit« ständig bedroht ist und daß der Untergang von Völkern, Familien, Personen, Spezies von Tieren und Pflanzen dem Fehlschlagen der aktiven Anpassung zuzuschreiben ist.
Ich spreche von aktiver Anpassung und schalte damit die Phantasien aus, die diese Anpassung sei es an die gegenwärtige Situation oder an den Tod alles Lebens geknüpft sehen. Es handelt sich vielmehr um eine Anpassung sub specie aeternitatis, weil nur jene körperliche und seelische Entwicklung »richtig« ist, die für die äußerste Zukunft als richtig gelten kann. Ferner besagt der Begriff einer aktiven Anpassung, daß Körper und Geist sowie die ganze Organisation des Lebens dieser letzten Anpassung, der Bewältigung aller durch den Kosmos gesetzten Vor- und Nachteile zustreben müssen. Scheinbare Ausgleiche, die vielleicht für einige Zeit Bestand haben, erliegen der Wucht der Wahrheit über kurz oder lang.
Wir sind mitten im Strom der Evolution und merken es ebensowenig, wie wir die Umdrehung der Erde merken. In dieser kosmischen Verbindung, wo das Leben des einzelnen Individuums ein Teil ist, ist das Streben nach siegreicher Angleichung an die Außenwelt Bedingung. Selbst wenn man zweifeln wollte, daß schon am Anfang des Lebens das Streben nach Überlegenheit bestanden hat, der Lauf der Billionen von Jahren stellt es klar vor unsere Augen, daß heute das Streben nach Vollkommenheit ein