Und er läßt sich das Wasser über die Hände laufen.
»Ja, Herr Professor.« Sie sieht ihn zögernd, etwas ängstlich an. »Herr Professor, verzeihen Sie, daß ich noch einmal davon anfange … Es sind heute früh die bestimmt, die mit an die Front dürfen … Und ich – ich soll nicht mit …«
Der Oberarzt macht eine ärgerliche Gebärde. »Es können nicht alle mit!« ruft er. »Es gibt auch hier Arbeit, sehr viel Arbeit, sehr notwendige Arbeit!«
»Herr Professor! Ich muß aber mit! Bitte, Herr Professor, sagen Sie der Frau Oberin, daß ich mit soll. Es kostet Sie doch nur ein Wort, Herr Professor …«
Der Oberarzt dreht sich um und sieht die junge Schwester wutfunkelnd an. »Und wegen solchem Dreck stören Sie mir meine paar freien Minuten?!« ruft er zornig. »Schämen Sie sich was, Schwester! Wenn Sie Abenteuer mit jungen Männern haben wollen, dann brauchten Sie nicht Schwester zu werden! Das konnten Sie an jeder Straßenecke haben! Das ist Ihnen wohl zu langweilig, Ihr Saal mit alten Frauen … Ach, lassen Sie mich zufrieden, Schwester!«
Aber wenn der Oberarzt erwartet hatte, daß die Schwester nach diesem kräftigen und deutlichen Anpfiff nun begossen abziehen würde, so irrte er sich. Die Schwester Sophie stand, ohne zu weichen und zu wanken, vielleicht hatte sich sogar etwas von dem Scheuen in ihrem Auge verloren, und das Kraftvolle, das Trotzige darin war stärker geworden. Der Arzt sah es nicht ohne Interesse.
»Ich will nicht wegen der jungen Männer heraus«, sagte sie beharrlich. »Frau Oberin hat mich doch grade darum zu den alten Omis versetzt, weil ich mich für die Männerstation nicht eigne. Ich mag Männer nicht …«
»Schwester«, sagte der Professor milde. »Sie sollen mir hier keine Vorträge über Ihre Neigungen halten. Das interessiert mich nicht. Machen Sie, daß Sie auf Ihre Station kommen.«
»Jawohl, Herr Professor«, sagte sie mit unüberwindlicher Hartnäckigkeit. »Aber, Herr Professor, ich muß raus, und Sie müssen mir dazu helfen …«
»Himmeldonnerwetter, Schwester!«
»Herr Professor, ich habe nie einen Menschen ausstehen können, ich habe nie einen Menschen gern gehabt, meine Eltern nicht, meine Geschwister nicht. Und auch hier die Patienten nicht …«
»Großartig, Schwester!« spottete der Arzt. »Ganz vorzüglich!«
»Nein, ich habe nie jemand leiden mögen, und auch mich hat nie jemand leiden mögen. Ich habe immer gedacht, man ist ganz unnütz … Und nun plötzlich – bitte, Herr Professor, hören Sie mich nur noch einen Augenblick an –, und nun plötzlich ist das gekommen mit dem Krieg. Ich verstehe nichts von Politik, Herr Professor, ich weiß nicht, wieso und warum. Aber plötzlich denke ich, ich könnt vielleicht doch noch etwas nützen und etwas Gutes tun und nicht ganz umsonst sein auf der Welt …«
Sie sah ihn einen Augenblick an.
»Vielleicht verstehen Herr Professor nicht, was ich meine, ich verstehe es ja selber nicht. Aber ich meine, daß die anderen, die Frauen, meine Schwester und so – die denken, daß sie mal Kinder haben werden und einen Mann, den sie gerne mögen. – Aber ich habe nie so etwas gehabt, Herr Professor! Ich habe mir nie denken können, wozu ich auf der Welt bin. Mein Vater …«
Sie brach ab. Dann: »Herr Professor, denken Sie nicht, daß ich so an junge Soldaten denke, denen man den Kopf hält und Wasser gibt … Nein, ich denke daran, daß ich laufen will und Arbeiten machen, die mir eklig sind, und vom Morgen zum Abend bis zum Umfallen und immer weiter. Und dann, Herr Professor, dann fühl ich vielleicht, daß ich nicht ganz umsonst bin auf der Welt …« Fast mit einem Schluchzen: »Man möchte doch auch ein bißchen mehr gewesen sein als eine Fliege …«
Eine Weile war es stumm zwischen den beiden. Der Arzt trocknete sich mit langsamen Bewegungen die Hände ab, trat dann auf die Schwester zu, hob ihr den Kopf mit dem weinenden Gesicht, sah ihr in die Augen und fragte milde: »Schwester, glauben Sie, daß ein großes Volk darum in einen solchen Krieg zieht, damit – wie heißen Sie?«
»Sophie Hackendahl …«
»… damit Sophie Hackendahl sich nicht mehr überflüssig vorkommt im Leben?«
»Was weiß ich davon?!« rief sie fast wild und befreite mit einer ungestümen Bewegung ihren Kopf aus seiner Hand. »Aber das weiß ich, daß ich jetzt einundzwanzig Jahre auf der Welt bin und nicht eine Stunde das Gefühl gehabt habe, ich bin zu irgend etwas nütze!«
»Vielleicht«, sagte der Arzt überlegend, »ist wirklich auch darum dieser Krieg gekommen, daß der Mensch wieder spürt, er ist zu irgend etwas da im Leben. Vielleicht.« Er sah die Schwester an. »Also, ich will sehen, was ich bei Ihrer Oberin erreiche. Soviel ich weiß, sind Sie bei ihr nicht sehr gut angeschrieben. Aber wie ich jetzt weiß, sind Sie wenigstens in diesem Punkte mit Ihrer Oberin ganz einig …«
Der Arzt lächelte, Sophie lächelte schwach, neigte dankend den Kopf und ging.
Der Oberarzt trat wieder an die Wasserleitung.
11 Eva lernt ihre Schwägerin kennen
Die andere Schwester Hackendahl, die Eva, hatte Eltern und Geschwister getrieben, daß man nur rasch genug in die Wohnung zurückkam. Nun saß sie leer und ausgelaufen in ihrem Zimmer. Nein, kein Eugen war in der Wohnung gewesen, kein Schreibtisch war erbrochen worden, das kleine törichte Dienstmädchen Doris nicht überwältigt oder vergewaltigt – es war alles genau, wie es sein sollte!
Und das war das Schlimmste! Daß Eugen noch nichts getan hatte, das war das Schlimmste! Daß er noch alles tun konnte, daß alles immer weiter drohte, daß man immer weiter warten mußte – das war das Schlimmste!
Sie sitzt da, sie hat die Hände in den Schoß gelegt, sie hört durch das offene Fenster den Vater mit Rabause im Stall reden und sie denkt: Ja, Vater hat es gut. Er hat seinen Stall und seine Droschken und seinen Rabause. Vater fehlt nichts. Aber ich …
Und sie hört die Mutter eifrig mit der Doris in der Küche reden, und Mutter hat es auch gut. Der Otto, dem es noch am schlechtesten von ihnen allen ging, der ist nun weggefahren, ist etwas Geehrtes geworden, etwas Angesehenes, er hat eine Aufgabe. Aber sie …! Und die Sophie hat auch eine Aufgabe, und wenn sie die nur muffig erfüllt, so liegt das nur an der Sophie – sie hat doch eine Aufgabe! Und Heinz hat seine Penne, und Erich hat auch immer was, immer was Neues, immer was anderes, aber sie!
Sie hat bloß ein Schicksal, ein schäbiges, gemeines Schicksal. Sie hat bloß den Eugen an der nächsten Straßenecke, der pfeift nach ihr auf einem Finger, den Ludenpfiff, und wenn er pfeift, dann muß sie kommen. Dem gehört sie nun. Der ist ihre Aufgabe!
Als er sie vorgestern zum Trinken zwang, als sie sah, er würde nicht nachgeben, er wollte sie unbedingt haben, sofort – und nicht etwa, weil er Verlangen hatte nach ihr, sondern bloß, damit sie wußte, sie gehörte ihm auch darin, sie hatte nichts Eigenes, nichts Sauberes mehr –, also, da war ihr plötzlich ein Gedanke gekommen wie ein ferner Trost, etwas, das ihr über die nächste schreckliche Stunde hinweghelfen konnte, und sie hatte gefragt: »Ja, Eugen, mußt du dich denn nicht auch stellen? Wirst du nicht auch Soldat?«
(Und sie hatte den Krieg als Befreier gesehen, genau wie ihre Schwester. Er würde fortmüssen, und wenn er wiederkam – aber er kam nicht wieder! Solche durften nicht wiederkommen, wozu war denn ein Krieg sonst nütze?) Er hatte sie von der Seite angesehen und hatte höhnisch gelacht: »Det möchtste wohl, mein Liebchen!«
»Aber nein, Eugen! – Nur, es müssen sich doch alle jungen Männer stellen …«
»Nee, meine Süße, mir lassen se nich dienen, ick bin unabkömmlich. Mir liebt mein Vaterland zu sehr.«
»Du bist unabkömmlich? Aber alle jungen Männer …«
»Mußt keine Angst haben, Evchen, ick bleibe bei dir.«
»Aber