»Soso, makellos also«, wiederholte Tatjana leicht pikiert. Die Tatsache, dass die Jungunternehmerin ihrem Freund eine eigene Praxis schenkten wollte, nagte doch an ihr und ihrem Selbstbewusstsein. Da konnte Danny tausend Mal versichern, dass er kein Interesse hatte. »Dann gefällt sie dir also doch?«
»Nein und nochmals nein!«, beharrte Danny eine Spur aggressiv. »Nur weil sie gut aussieht, heißt das noch lange nicht, dass sie mir gefällt. Mal abgesehen davon, dass ich es ausgesprochen dumm finde, dass sie sich ohne Not unters Messer legen will«, redete er sich in Rage.
»Schon gut. Reg dich nicht auf«, beschwichtigte Tatjana ihren Freund schnell. Schon tat es ihr leid, die gute Stimmung verdorben zu haben. »Ich könnte es dir nur nicht verdenken, wenn dich dieses Angebot nicht ganz kalt lässt. Diese Frau muss ganz schön verliebt in dich sein«, sagte sie zärtlich und beugte sich über Danny. »Was ich durchaus verstehen kann.« Sie musterte ihn aus ihren unergründlichen, unvorstellbar dunkelblauen Augen und streichelte zärtlich seine Wange.
Ihre versöhnlichen Worte, der verliebte Ausdruck in ihrem Gesicht, ihr geheimnisvoller Blick blieben nicht ohne Wirkung.
»Wenn mich jemand nicht kalt lässt, dann bist du das.« Danny umschlang seine Freundin und zog sie an sich, um ihr Gesicht mit kleinen Küssen zu bedecken.
Tatjana war froh, dass sich die Gewitterwolken so schnell wieder verzogen hatten, wie sie gekommen waren.
»Na, dann will ich mal dafür sorgen, dass das auch so bleibt«, versprach sie und knabberte verspielt an seinem Ohrläppchen.
Die gefährliche Klippe war umschifft und die Stimmung für diesen Abend gerettet. Doch nur Danny selbst wusste, dass er nicht alles erzählt hatte. Tatjana ahnte nicht, dass Victoria Bernhardt einen Termin in der Behnisch-Klinik hatte und dass er selbst sie dort betreuen würde. Um des lieben Frieden willens hatte er auf diese Information verzichtet und wusste jetzt schon, dass das ein Fehler gewesen war.
*
Trotz zunehmender Patientenzahlen war einer der vielen unschätzbaren Vorteile der Gemeinschaftspraxis Norden die Zeit, die sich Danny und Daniel Norden Senior für ihre Patienten nehmen konnten.
»Haben Sie denn niemanden, der Sie in die Klinik bringen kann?«, erkundigte sich Dr. Norden bei seinem Patienten Arnold Masuch.
Der alte Mann saß wie ein Häuflein Elend vor ihm und krümmte sich vor Schmerzen.
»Nein, niemanden«, keuchte er gequält. Sein von Falten zerfurchtes Gesicht war noch blasser als sonst. »Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Wir hatten keine Kinder. Jetzt bin ich ganz allein.«
Dr. Norden zögerte nicht lange. Es bestand doch der Verdacht auf eine akute Blinddarmentzündung. Schnelles Handeln tat Not und er warf einen raschen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag.
»Bitte warten Sie einen Augenblick. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Arnold Masuch nickte gottergeben, und Daniel eilte aus dem Behandlungszimmer.
»Wie viele Patienten warten noch auf mich?«, erkundigte er sich bei seiner Assistentin, die eben damit beschäftigt war, Befunde zu tippen, die ihr Chef auf Band diktiert hatte.
Wendy nahm die Kopfhörer ab und lächelte ihn entschuldigend an.
»Wie bitte?«
Ungeduldig wiederholte Daniel seine Frage.
Wendy ahnte, worum es ging und warf einen prüfenden Blick in den Terminkalender.
»Frau Herbst hat noch einen Termin. Sie verreist demnächst nach Thailand und brauchte eine Beratung wegen der nötigen Impfungen und der Malariaprophylaxe. Aber das kann Danny übernehmen«, beschied sie ihrem Chef. »Christina Scharf ist im Augenblick noch bei ihm wegen der Nachsorge ihrer Schnittverletzung. Das kann nicht mehr lange dauern.« Sie lächelte Daniel an. »Sie können Herrn Masuch also unbesorgt in die Klinik bringen.«
»Woher wissen Sie ...?« Ungläubig schnappte Daniel nach Luft, und Wendy griff wieder nach ihren Kopfhörern.
»Jahrelange Erfahrung!«, lächelte sie verschmitzt, ehe sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte und Daniel seinen Patienten beruhigt in die Klinik begleiten konnte.
*
Nachdem Dr. Norden den einsamen Arnold Masuch eine dreiviertel Stunde später in der Chirurgie abgeliefert hatte, machte er sich auf den Weg zu Jenny Behnisch. Eine Ärztin, die er noch nicht kannte, fuhr mit ihm den Aufzug hoch. In Gedanken versunken musterte er das Namensschild an ihrem Kittel und wurde aufmerksam.
»Frau Dr. Miller?«, fragte er.
In ihrem aparten, nicht mehr ganz jungen und ein wenig erschöpft wirkenden Gesicht stand eine unausgesprochene Frage.
»Ganz recht. Ich arbeite erst seit Kurzem an dieser Klinik. Deshalb weiß ich leider nicht, mit wem ich das Vergnügen habe.« Sie lächelte ihn freundlich an und musterte ihn offen.
»Oh, bitte entschuldigen Sie.« Daniel Norden stellte sich vor. »Ihr Sohn war gestern bei mir in der Praxis.«
»Ah, dann haben Sie seine Nase also so fachkundig eingerichtet. Die Kollegen haben schon viel von Ihnen erzählt. Ich hatte vor, Sie heute anzurufen, um mich bei Ihnen für die unbürokratische Hilfe zu bedanken.« Die Aufzugtüren öffneten sich, und Ramona trat hinaus. Mit einer Patientenakte unter dem Arm wartete sie auf Daniel und schlenderte dann mit ihm den Gang hinunter. »Ausgerechnet gestern Nachmittag hatte ich eine schwierige Operation und hätte gar keine Zeit für Theo gehabt. Deshalb bin ich doppelt dankbar.« Müde fuhr sie sich über die Augen.
»Ich bitte Sie. Das war doch selbstverständlich«, versicherte Daniel. Jetzt, wo er die Bekanntschaft dieser bescheidenen, freundlichen Chirurgin gemacht hatte, freute er sich doppelt darüber, ihr das Leben wenigstens ein bisschen leichter gemacht zu haben.
»Sieht so aus, als ob Felix und Theo sich gut verstehen«, unterbrach Ramona seine Gedanken.
»Das denke ich auch.« Plötzlich hatte Dr. Norden den Eindruck, als ob seine Gesprächspartnerin nervös wurde. Er schickte Ramona einen kurzen Seitenblick und sah seinen Verdacht bestätigt. Sie zupfte mit den Zähnen an der Unterlippe und blieb unvermittelt an einer ruhigen Ecke stehen.
»Dann sollte ich Ihnen vielleicht sagen, dass Theo Probleme mit dem Selbstbewusstsein hat.« Ramona seufzte. Eine Falte hatte sich zwischen ihre graublauen Augen gegraben. »Er war noch nie ein Draufgänger. Aber jetzt fällt es ihm immer schwerer, Freundschaften zu schließen. Am liebsten verkriecht er sich hinter seinem Computer und lässt sich den ganzen Tag nicht mehr blicken.«
»Felix ist da ganz anders«, konnte Dr. Norden zu seiner Erleichterung berichten. Auch sein Zweitältester spielte hin und wieder gerne Computer. Aber er hatte darüber hinaus noch so viele andere Interessen, dass die Zeit am Bildschirm überschaubar war. »Vielleicht kann er Theo ja mal zum Fußball mitnehmen oder auf eine Party bei seinen Freunden.«
»Das wäre wirklich nett.« Scheinbar hatte Ramona noch keinen Anschluss in der fremden Stadt gefunden, denn sie genoss es ganz offensichtlich, sich mit dem Kollegen zu unterhalten. Es mochte aber auch daran liegen, dass sie sich Sorgen um ihren Sohn machte und sich über den kompetenten Gesprächspartner freute. »Wissen Sie, es hat Theo sehr zu schaffen gemacht, als ich mich von seinem Vater getrennt habe. Dabei hatte diese Ehe einfach keine Zukunft mehr. Mein Mann wurde nach Asien versetzt und war kaum mehr zu Hause. Ständig war ich allein mit Theo und musste sehen, wie ich meinen Alltag und den anstrengenden Beruf um meinen Sohn herum organisiere.«
»Ich kann mir vorstellen, dass das für viel Zündstoff gesorgt hat.« Wieder einmal dankte Daniel Norden dem Himmel dafür, ihn mit dieser Frau, dieser Familie gesegnet zu haben, sodass er nie mit solchen Problemen konfrontiert gewesen war. Und es hoffentlich nie sein würde.
»Meine ganze Unzufriedenheit über die Situation hat mein Mann abbekommen«, gestand Ramona offen. »Deshalb entschieden Heiner und ich eines Tages, uns unser ohnehin nicht leichtes Leben nicht noch zusätzlich schwer zu machen.« Als Ramona