»Haben Sie wirklich gedacht, ich hätte das nötig? So eine lächerliche Summe?«
An dieser Stelle wünschte sich Wendy ein Loch, das sich im Erdboden auftun würde, damit sie darin verschwinden konnte.
»Ich …, es …, ich …«
Sie verstummte, als sie spürte, wie er seine Hand federleicht auf die ihre legte.
»Tut mir leid. Das ist meine Schuld«, räumte er plötzlich ein. »Meine Kreditkarten wurden gar nicht gestohlen. Ich hatte vergessen, dass ich mein Portemonnaie vor dem Klinikbesuch ausgeräumt hatte.«
Wendy starrte ihn ungläubig an. Ein Glück, dass sie das nicht an die ganz große Glocke gehängt hatte.
»Und warum haben Sie sich nach dem Abend nicht mehr bei mir gemeldet?«, fragte sie irritiert.
»Geschäfte, meine Liebe. Dringende Geschäfte!«, versicherte er versöhnlich lächelnd. »Aber ich habe gute Nachrichten. Alles ist perfekt gelaufen und ich werde noch eine Weile in München bleiben. Zur Feier des Tages wollte ich Sie in die Oper einladen.« Triumphierend lächelnd griff er in sein Sakko und zog zwei Eintrittskarten heraus. »La Traviata! Sie haben mir doch erzählt, dass das Ihre Lieblingsoper ist, nicht wahr?«
Wendy machte den Mund auf und wieder zu. Sie konnte nichts sagen. Plötzlich war ihre kleine Welt wieder in Ordnung, fragte sie sich, wie sie so sehr an diesem wunderbaren Mann hatte zweifeln können. Er war ein Geschenk des Himmels. Sie sollte es endlich glauben.
»Und? Wie sieht es aus?«, fragte Edgar von Platen in ihre Gedanken hinein. »Begleiten Sie mich?«
»Sehr, sehr gerne«, sagte sie und konnte und wollte ihre Freude und Erleichterung nicht verbergen. Auf einmal freute sie sich auf diesen Abend. Und auf die Zukunft mit Edgar. So lange sie auch dauern mochte!
»Das erinnert mich an die Zeiten, als wir damals beide gemeinsam in der Praxis gearbeitet haben.« Versonnen saß Felicitas Norden am Mittagstisch und lauschte den Fachsimpeleien, die ihr ältester Sohn mit ihrem Mann Daniel führte. »Die Erinnerung daran erscheint mir wie aus einem anderen Leben.«
Nachdem Danny den alteingesessen Arzt während eines mehrmonatigen Aufenthalts seiner Eltern im Orient mit Bravour vertreten und sich seine Sporen verdient hatte, war vom Familienrat beschlossen worden, dass er als Assistent in die Praxis seines Vaters einsteigen sollte.
»Das kommt dir nicht nur so vor, mein Feelein«, erwiderte Danny weich. »Das war ein anderes Leben. Erinnerst du dich? Damals hatten wir noch keine Kinder. Unsere Wohnung lag im selben Haus wie die Praxis und das gute, alte Lenchen hat den Haushalt geführt.«
»Das ist ja mal cool!«, entfuhr es Danny. »Mit dem Aufzug in die Arbeit zu fahren statt mit dem Auto. Das wär genau mein Wetter.«
Fee lachte belustigt auf.
»Wie alles im Leben hatte auch das Vor- und Nachteile«, erklärte sie ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn. Die Vorstellung, dass er damals nicht mehr als ein Zellklumpen gewesen war, amüsierte sie. Und heute diskutierte sie mit ihm über das Leben, das sie damals geführt hatte im Bewusstsein, bald Mutter ihres ersten Kindes zu werden. »Damals waren wir quasi ständig im Dienst und hatten kaum ein Privatleben.«
»Das kann so nicht stimmen.« Danny grinste schelmisch. »Immerhin habt ihr es geschafft, mich zu zeugen. Und das werdet ihr ja kaum in der Praxis getan haben.« Er zwinkerte seinen Eltern übermütig zu und Daniel und Fee lachten herzlich, bevor sie zum eigentlichen Thema zurückkehrten.
Hätte Felicitas Norden nicht eigene Pläne gehabt, wäre sie fast ein wenig neidisch auf Mann und Sohn gewesen. Doch ihre Idee, den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu machen, beflügelte sie und eröffnete ihr, wenn auch vorerst nur gedanklich, neue Welten.
»Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie schwierig es damals für mich war. Einige Patienten wollten einfach nicht einsehen, dass eine Frau genauso gute Arbeit leisten kann wie ein Mann.« Nachdenklich streckte sie die Hand aus und spießte mit der Gabel ein paar der restlichen Käsespätzle in der Schüssel auf, die vom Mittagessen übrig geblieben waren.
»Glücklicherweise haben sich die Zeiten geändert. Mit solchen Schwierigkeiten hättest du heute wohl kaum mehr zu kämpfen«, bemerkte Daniel.
Auch er erinnerte sich lebhaft an die Anfangszeiten ihrer Ehe, als Fee als Ärztin in der Praxis mitgearbeitet hatte. Doch er dachte nicht nur an die Schwierigkeiten, sondern auch an die Vorteile, die sie gehabt hatte. »Dafür ist es dir ungleich leichter gefallen, das Vertrauen einiger Menschen zu gewinnen. Erinnerst du dich zum Beispiel an den Fall André Clermont?«
»Clermont, Clermont …«, wiederholte Fee und betrachtete sinnend die Gabel in ihrer Hand. »War das nicht dieser Forscher, der durch die Hand seiner Schwägerin um ein Haar ums Leben gekommen wäre?« Obwohl inzwischen viel Zeit vergangen war, stand Fee dieser spektakuläre Fall noch deutlich vor Augen. »Diese hinterhältige Frau, die ihm mit ihrer präparierten Broschennadel eine tödliche Dosis Atropin beibringen wollte.«
»Richtig.« Daniels Augen blitzten vor Vergnügen an diesem Gespräch. Solche Erinnerungen zu teilen war eines der großen Geschenke einer langjährigen Ehe. »Du konntest einen wesentlichen Beitrag zur Auflösung dieser Geschichte leisten, weil Clermonts spätere Ehefrau Bettina Herzog Zutrauen zu dir gefasst und dir Dinge erzählt hat, die ich niemals erfahren hätte.«
»Das stimmt.« Inzwischen hatte Felicitas auch die letzten Käsespätzle aus der Schüssel gefischt und legte zufrieden die Gabel auf den Tisch.
Sie hatte den Aufenthalt im Orient, die aufregend exotische Atmosphäre und die fremden Speisen sehr genossen. Trotzdem konnte sie seit ihrer Rückkehr nicht genug von der guten alten Hausmannskost bekommen. Und natürlich tat die treue Haushälterin Lenni alles, um die Wünsche ihrer verehrten Frau Doktor zu erfüllen. Nichts Schöneres gab es für sie im Leben, als »ihre Familie« glücklich und zufrieden und vor allen Dingen satt zu sehen.
»Die Probleme, die vor mir auftauchen, haben auch mit Kompetenz zu tun. Wenn auch in anderer Form«, gab Danny an dieser Stelle des Gesprächs zu bedenken und dankte Wendy mit einem strahlenden Lächeln, als sie eine Tasse Espresso vor ihn hinstellte. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Frauen, die von mir behandelt werden wollen, nicht wegen meines Fachwissens behandelt werden wollen. Sie kommen nur zu mir, weil sie mich umgarnen wollen.« Mit Schrecken dachte er an seine Patientin, die schöne Jungunternehmerin Victoria Bernhardt, die ihm sogar eine eigene Praxis kaufen wollte, wenn er sich nur mit ihr einließe. Natürlich hatte Danny dieses Angebot ohne eine Sekunde zu zögern ausgeschlagen und sie darauf aufmerksam gemacht, dass er keine privaten Beziehungen zu Patientinnen pflegte. Trotzdem verfolgte ihn diese Frau seither in Gedanken, zumal sie auch seine Freundin Tatjana ins Spiel gebracht hatte. Denn auch sie war eine Patientin. Woher Victoria das wusste, war Danny ein Rätsel.
In seine Gedanken hinein lachte Fee belustigt auf.
»Diese Probleme kennt dein Vater auch noch von damals. Ich war nur froh, dass seine Assistentin Molly ein wachendes Auge über ihn hatte. Sonst hätte ich keine ruhige Minute gehabt.«
»Du hattest nie Grund zur Sorge, mein Feelein«, versicherte Daniel mit Nachdruck und löffelte Zucker in seine Kaffeetasse. »Du weißt, dass du für mich die einzige Frau warst, bis auf den heutigen Tag bist und immer sein wirst.«
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, gab sie schelmisch zwinkernd zurück und schenkte ihrem Mann ein strahlendes Lächeln.
Noch immer liebte sie dieses Gesicht, die inzwischen gar nicht mehr so kleinen Lachfalten in seinen Augenwinkeln, die Lippen, unter denen sich kräftige Zähne verbargen, die schönsten, die sie je bei einem Mann gesehen hatte. Seine Augen, seine Hände, die Männlichkeit, die nichts von ihrer Selbstsicherheit verloren hatte und vor allen Dingen seine Intelligenz