Von dieser Minute an war die sonst so zuverlässige Assistentin fahrig und nervös und konnte sich nicht mehr recht auf ihre Arbeit konzentrieren. Dabei war ausgerechnet an diesem Tag die Hölle los in der Praxis.
»Wendy, können Sie bitte den Blutdruck bei Herrn Seibold messen?«, bat Dr. Norden im Vorbeigehen.
»Franziska Meese sitzt in Zimmer 3. Sie hat einen Knoten in der Schilddrüse, und wir müssen ein Blutbild zur Hormonbestimmung machen lassen«, teilte Danny ihr leise am Tresen mit. Auch er war auf dem Sprung ins Behandlungszimmer, um sich des nächsten Patienten anzunehmen. »Können Sie das bitte für mich erledigen?«
»Natürlich. Ein Blutbild von Herrn Seibold und Blutdruck bei Frau Meese«, wiederholte Wendy wie in Trance.
Danny, der schon auf dem Rückweg ins Sprechzimmer war, stutzte und hielt inne.
»Moment mal.« Mit großen Schritten kehrte er zu Wendy zurück, die bereits die Patientenkarten in der Hand hielt. Er musterte sie irritiert. »Genau umgekehrt. Seibold Blutdruck und Meese Blutbild. Sind Sie verliebt oder warum sind Sie so verwirrt?«, fragte er mit einem belustigten Lächeln und ahnte nicht im Geringsten, wie nah er damit der Wahrheit kam.
Schlagartig schoss ihr die Hitze ins Gesicht.
»Vielleicht brauche ich mal Urlaub«, stammelte sie verlegen und wagte es kaum, Danny ins Gesicht zu sehen.
All das war ihr so unglaublich peinlich. Auch diese Notlüge. Doch nun waren die unseligen Worte gesagt und nicht mehr zurückzunehmen.
Nachdenklich wiegte der Junior den Kopf.
»Sie haben recht. Ich werde das mal mit meinem Vater besprechen.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Aber ein bisschen müssen Sie noch durchhalten.«
»Ich verspreche es«, erklärte Wendy aus tiefster Überzeugung und konzentrierte sich in den nächsten Stunden nach Kräften, so dass der Vormittag ohne unerfreuliche Zwischenfälle vorbeiging.
Schließlich stand sie mit weichen Knien vor der Tür des Krankenzimmers, in dem sich Edgar von Platen von seiner Operation erholte.
»Anna-Maria!«, begrüßte er sie freudestrahlend, als sie an sein Bett trat und ihm die Schachtel Pralinen überreichte, die sie noch rasch im Supermarkt besorgt hatte. »Was für eine Ehre, dass Sie mich besuchen kommen. Und ein Geschenk haben Sie auch mitgebracht. Zu viel der Ehre. Wussten Sie, dass ich handgemachte Pralinen liebe?«, plauderte Edgar munter wie ein Wasserfall und legte das Konfekt achtlos auf den Nachttisch. Aufgrund der Operation klang seine Stimme nasal, aber das würde sich bald geben.
Wendy achtete ohnehin nicht darauf. Sie hatte gedacht, dass die Geste wichtiger war als das Geschenk selbst und schämte sich, keine teureren Pralinen ausgesucht zu haben.
»Tut mir leid, wenn ich nicht Ihren Geschmack getroffen habe.«
»Nicht doch, nicht doch. Alles wunderbar«, beeilte sich Edgar zu versichern. »Bitte setzen Sie sich. Ich würde Ihnen ja den Stuhl zurechtrücken. Aber leider darf ich noch nicht aufstehen.«
Halbwegs beruhigt holte Wendy einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Sie fühlte sich wie ein Teenager.
»Wie ist es Ihnen ergangen? Sind Sie zufrieden mit der Behandlung hier?«, suchte sie nach einem Gesprächsthema, um das Eis zu brechen.
»Vor allen Dingen bin ich unglaublich glücklich, dass Sie die Mühe nicht gescheut haben, mich zu besuchen.« Im Krankenbett liegend, mit halb aufgerichtetem Oberkörper, streckte Edgar die Hand nach Wendys aus und zog sie an seine Lippen, um sie sanft zu küssen. »Sie scheinen eine sehr zuverlässige Frau zu sein.«
Das Urteil des Geschäftsmannes schmeichelte Wendy.
»Wissen Sie, im Grunde genommen bin ich ein sehr konservativer Mensch. Werte wie Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Loyalität und solche Dinge mehr sind mir sehr wichtig«, gestand sie mit vor Aufregung geröteten Wangen, die ihr gut zu Gesicht standen und sie viel jünger wirken ließen.
»Sie sprechen mir aus der Seele!«, gab Edgar innig zurück. Immer noch hielt er ihre Hand zwischen den seinen und betrachtete sie eingehend. »Auf was sollte man sich denn heutzutage sonst noch verlassen, wenn nicht auf Menschen, die so denken wie man selbst? Es gibt keine Sicherheit da draußen.«
Plötzlich veränderte sich seine Miene. Sein Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an, und Wendy erschrak.
»Haben Sie Sorgen?«, fragte sie alarmiert.
Bekümmert winkte Edgar von Platen ab.
»Nicht doch. Ich möchte Sie nicht mit meinen Problemen behelligen. Meine Bemerkung war unbedacht und dumm. Bitte lassen Sie uns von etwas anderem sprechen.« Er hob die Augen und schickte ihr einen Blick, der ihr durch und durch ging. »Zum Beispiel von Ihnen. Ich möchte alles von Ihnen erfahren.«
Seit Jahren hatte Wendy keine solche Aufmerksamkeit mehr von einem Mann erfahren und wusste nicht recht, wie sie damit umgehen sollte.
»Über mich gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete sie leise. »Ich bin geschieden und habe eine erwachsene Tochter, die aber ihr eigenes Leben lebt. Aber das macht nichts, denn ich habe einen netten Freundeskreis, mit dem ich allerhand unternehme. Ich besuche gerne Konzerte, gehe ab und zu ins Theater oder in die Oper und manchmal zum Essen. Durch meine Arbeit bei Dr. Norden habe ich außerdem viel Kontakt zu anderen Menschen.« Einen Moment lang sann sie über ihre Worte nach. Dann nickte sie. »Doch, ich glaube behaupten zu können, dass ich ein schönes Leben führe.«
»Aber es könnte noch schöner sein mit einem Menschen an Ihrer Seite, mit dem Sie all das teilen könnten, finden Sie nicht? Welche ist Ihre Lieblingsoper?«
»La Traviata«, erwiderte Wendy ohne Zögern.
Edgar lächelte wissend, ging aber nicht darauf ein.
»Allein die Oper zu gehen stelle ich mir wenig amüsant vor«, fuhr er stattdessen sanft fort. Wendy suchte noch nach einer Antwort, als er schon mit sinnendem Ausdruck in den Augen fortfuhr. »Als erfolgreicher Geschäftsmann bin ich seit Jahren auf der ganzen Welt unterwegs. Ich habe viele Menschen kennengelernt, tolle Erlebnisse gehabt. Und doch ist das alles kaum etwas wert, weil ich es nicht teilen konnte.« Sein Blick kehrte zu Wendy zurück und umfing den ihren mit einer Innigkeit, die sie zittern ließ. »Ich gebe ja zu, dass diese Ungebundenheit früher ihren Reiz hatte. Aber heute vermisse ich es, irgendwo zu Hause zu sein.« Er machte eine Pause. »Im Herzen einer Frau«, fügte er heiser hinzu.
»Oh!«, entfuhr es Wendy. Ein Glück, dass sie saß, denn schlagartig wurden ihre Knie weich, begannen ihre Hände zu zittern. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass sich dieser weitgereiste, erfahrene und offenbar kluge Mann ausgerechnet für sie interessierte.
Edgar entging ihre Verlegenheit nicht, und er lächelte zärtlich.
»Anna-Maria, darf ich Sie zum Essen einladen, wenn ich wieder halbwegs in Form bin?«
»Aber nur, wenn Sie mir versprechen, dann von Ihren Problemen zu erzählen«, brannte ihr seine Bemerkung nach wie vor im Gedächtnis.
Ihr weiches Herz befahl ihr, für ihn da zu sein und sich um ihn zu kümmern. Schon eilten ihre Gedanken voraus in die Zukunft. Sie spürte den Wunsch, nicht nur die Freude sondern auch das Leid mit ihm zu teilen. Ganz so, wie es sich in einer guten Partnerschaft gehörte.
Edgar lächelte geschmeichelt.
»Wenn Sie darauf bestehen«, erwiderte er weich. »Ihnen würde ich sogar einen Stern vom Himmel holen, wenn Sie sich das von mir wünschten.«
Darauf wusste Wendy nun wirklich nichts mehr zu sagen. Sie murmelte eine Entschuldigung, dass ihre Mittagspause vorbei sei und sie in die Praxis zurückkehren müsse. Mit wild schlagendem Herzen und glühenden Wangen floh sie aus dem Krankenzimmer. Schon jetzt freute sie sich darauf, Edgar von Platen wiederzusehen. Sehnsucht, Angst, Unsicherheit,