»Ich bin schon lange hier«, sagte der Fremde nervös und ging schnell davon.
*
Die kleine Petra stand mit verweinten Augen vor der Pferdekoppel des Birkenhofes. Sie wartete auf den alten Karl.
Als es ihr zu langweilig wurde, kroch sie unter dem Gatter hindurch. Das braune Fohlen preschte auf sie zu, blieb aber wenige Meter vor ihr so abrupt stehen, dass es beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Sofort folgte ihm die Mutter.
Petra lachte, obwohl ihr heute gar nicht danach zumute war. »Pascha, deine Mutti hat Angst um dich, wenn du so wild bist. Du brauchst vor mir nicht zu erschrecken.« Sie trat auf das Fohlen zu.
Es äugte ihr entgegen. Auf seinen hohen Beinen kam es dann herangestakst. Seine Mutter begleitete es und wieherte stolz.
Petra schlang die Arme um Paschas Hals. »Du hast eine Mutter und einen Vater, Pascha. Das ist schön. Schau, ich habe keinen Vater mehr. Wenn er nicht gestorben wäre, brauchten wir jetzt auch den Simmerl nicht zu verkaufen.« Petra kamen schon wieder die Tränen. »Wo bleibt denn heute Karl so lange? Er ist doch sonst um diese Zeit meistens auf der Koppel.« Sie sah zum Birkenhof. Plötzlich ließ sie das Fohlen stehen und rannte zum Tor des Gatters.
Karl stapfte auf die Koppel zu. Er hatte eine grüne Arbeitsschürze umgebunden.
Kaum hatte er das Tor geöffnet, warf sich Petra an seine Brust.
»Jetzt muss Mutti meinen Simmerl doch verkaufen, Karl«, klagte sie.
Karl legte den Arm um sie. »Diese Gefahr kennen wir ja schon eine ganze Weile, Petra, warum also heulen? Ich mag es nicht, wenn kleine Mädchen weinen. Komm, wir setzen uns da oben auf den Steinhaufen. Da erzählst du mir, was mit deinem Simmerl geschehen soll.«
Petra fasste nach der Hand des alten Karls. Sie hatte ihn sehr gern.
Auf dem Steinhaufen schmiegte sie sich eng an ihn. »Weißt du, warum ich heute auf dich gewartet habe?«
»Ich kann es mir denken. Du willst fragen, ob wir deinen Simmerl nicht im Birkenhof aufnehmen, Petra. Ist es so?« Der Alte strich ihr über den Kopf.
»Wieso hast du das so schnell erraten, Karl?«
»Weil es nicht schwer war. Imma und ich haben uns schon darüber unterhalten, ob wir deiner Mutter nicht für einige Zeit die Sorge um euren Haflinger abnehmen sollen. Vielleicht könnt ihr ihn später wieder nehmen.«
Petra warf die Arme um Karls Hals. »Ihr seid so lieb, Karl, du und Imma. Brauche ich dich gar nicht mehr zu bitten, dass Simmerl auf den Birkenhof kommen darf?«
»Nein, das brauchst du nicht zu tun. Also, wenn deine Mutti einverstanden ist, dann bringe deinen Simmerl bald. Er wird es hier gut haben.«
»Vielleicht gibt euch Mutti etwas Mehl oder Kleie, Karl. Mehl haben wir noch ein paar Säcke. So viel Kuchen können wir gar nicht backen. Aber Hafer haben wir keinen mehr, und Mutti will auch einen Bauern drei Kühe in unseren Stall stellen lassen, weil er keinen Platz mehr für die Tiere hat. Dafür bekommt sie ein bisschen Geld. Stallmiete oder so was.«
Karl stand auf. »Reden wir nicht mehr so viel, Petra. Lauf jetzt nach Hause. Oder willst du noch mit Katrin spielen?«
»Nein, heute geht es nicht. Mutti wartet auf mich. Ich habe ihr versprochen, etwas aus der Apotheke zu holen.«
Karl erschrak. »Ist deine Mutti krank?«
»Nur ein bisschen. Sie hat einen schlimmen Fuß. Gestern waren wir Brombeeren pflücken, da hat sie sich an Dornen im Gebüsch gerissen. Es war nicht schlimm, aber heute tut ihr das Bein weh. Ich muss etwas aus der Apotheke holen, in dem Mutti das Bein baden kann.«
»Dann beeile dich, Petra. Ich werde Imma sagen, dass sie zur Schlehdorn-Mühle reitet und mit deiner Mutti wegen Simmerl spricht. Aber es wird wohl Abend werden, ehe Imma kommt. Sie ist heute mit Katrin und ihrem Vater in der Kreisstadt gewesen.«
Petras Augen leuchteten sehnsüchtig. »Dorthin möchte ich auch einmal, aber das ist ja für mich viel zu weit.«
Karl ging mit dem Mädchen über die Koppel. »Ich begleite dich bis zum Waldrand«, sagte er.
Petra war in Gedanken noch immer bei der kleinen Katrin. »Karl, Imma hat meiner Mutti neulich ganz genau erzählt, woher ihr Vater die Kleine hat. Sie ist sehr arm, wenn sie keine Mutti mehr hat und wenn ihr Vater sie nicht will. Das tun doch nur ganz böse Menschen, dass sie ihre Kinder weggeben!«
»Ja, da hast du recht, Petra, aber manchmal sind Menschen in so großer Not, dass sie meinen, ihr Kind nicht durchzubringen.«
»Nein, das ist nicht wahr«, sagte Petra entrüstet. »Karl, liebe Eltern geben ihr Kind nicht her, auch wenn sie vielleicht nicht genug zu essen haben. Meine Mutti muss auch sehr sparen, aber sie sagt, sie wird es nur mit mir schaffen, dass es uns wieder gutgeht!«
Karl war erschüttert über die Art der erst sechsjährigen Petra. Es war ihr anzumerken, dass sie viel Schweres miterlebt hatte. Trotzdem war sie kein bedrücktes Kind. Die Liebe ihrer Mutter entschädigte sie für manches, auf das sie verzichten musste.
Er verabschiedete sich am Waldrand von Petra und versprach ihr noch einmal, dass Imma gegen Abend in die Schlehdorn-Mühle kommen werde.
»Dann kann ich meinen Simmerl immer besuchen«, sagte Petra zuversichtlich. »Und du wirst sehen, Karl, dass Mutti und ich ganz viel arbeiten werden. Damit wir Simmerl bald wieder zu uns nehmen können.«
Karl ging zum Birkenhof zurück und grübelte dabei. Imma hatte viel zu tun und wurde dauernd abgelenkt. Auch wenn sich ihr Vater sehr bemühte, niemandem Scherereien zu machen, das neue Leben war für ihn doch ungewohnt. Und so ein kleines Kind zu versorgen, bedeutete für Imma eine große Umstellung.
Auch jetzt saß sie mit Katrin in der Wohnstube und fütterte sie.
»War Petra nicht auf der Koppel?«, fragte Imma.
»Doch. Aber sie hatte heute keine Zeit, zu Katrin zu kommen.« Karl erzählte nun, welches Anliegen Petra hatte. »Reite zur Schlehdorn-Mühle, Imma. Es ist besser, du sprichst selbst mit Frau Pleyer. Außerdem soll sie sich am Bein verletzt haben. Frag, ob sie vielleicht Hilfe braucht. Mir würde es nichts ausmachen, in der Mühle ab und zu einzuspringen. Die Arbeit ist für eine junge Frau ohnehin zu schwer. Frau Pleyer müsste einen tüchtigen jungen Müller haben. Erst recht, wenn sie mehr Arbeit bekommt. Aber jetzt kann sie es sich wohl noch nicht leisten, Arbeitslohn zu zahlen. Ich brauche kein Geld. Sag Frau Pleyer das bitte.«
Imma sah Karl etwas besorgt an. »Du darfst dir auch nicht zu viel zumuten. Auf dem Birkenhof hast du Arbeit genug.«
»Ja.« Karl lachte. »Es wird eben höchste Zeit, dass du heiratest. Mathias wird mir sicher viel abnehmen, auch wenn er tagsüber in der Praxis sein muss.« Karls Stimme wurde etwas leiser: »Warum hältst du deinen Vater nicht ein wenig zur Arbeit an? Um die Pferde könnte er sich doch kümmern.«
Imma lächelte nachsichtig. »Vater hat nur Katrin im Sinn. Es ist ja auch gut, dass er sich so intensiv mit ihr beschäftigt.« Sie stand auf, nahm dem kleinen Mädchen das Lätzchen ab und setzte es ins Bett.
»Onkel Eugen kommt gleich zu dir, Katrin.«
Dem Kind schien dieser Name schon ein Begriff zu sein. Es lachte freudig.
Nein, die Kleine verstand noch nicht, was ihr passiert war. Sie fühlte sich schon nach der kurzen Zeit hier zu Hause und hielt alle Bewohner des Birkenhofes für ihre Angehörigen.
»Dann werde ich das Abendessen vorbereiten, Karl, damit ich bald zu Ingrid Pleyer reiten kann. Vater wird wohl jetzt mit dem Schreiben seines Briefes fertig sein. Ich möchte nur wissen, was er auf einmal alles nach Bodenwerder zu schreiben hat.«