Das Judentum. Michael Tilly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Tilly
Издательство: Bookwire
Серия: marixwissen
Жанр произведения: Религиозные тексты
Год издания: 0
isbn: 9783843802192
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der Garant für das Wohlverhalten der Juden (Religionsfreiheit wurde im römischen Reich durch Privilegrecht geregelt). Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts wurde der Führer der rabbinischen Bewegung, Rabbi Jehuda ha-Nasi, dem auch die abschließende Redaktion der Mischna (vgl. Kap. 2, Die Mischna) zugeschrieben wird, von den Römern als Vertreter aller Juden Palästinas anerkannt. Das Patriarchat wurde im dritten Jahrhundert erblich.

      Während der Herrschaft Konstantins I. (306–337/325) begann die zunehmende Bedrückung des Judentums unter dem Einfluss der Erhebung des Christentums zur staatlich privilegierten Religion. Das Edikt von Mailand (313) erlaubte die Ausübung der christlichen Religion im Reich. Konstantin II. (337–340) verbot 339 Juden das Halten nichtjüdischer Sklaven. Bekehrte ein Sklave sich zum Christentum, musste er von seinem jüdischen Herrn freigelassen werden. Das negative christliche Judenbild wurde nun zur allgemeinen Maxime. Die Ausübung der jüdischen Religion blieb zwar weiterhin erlaubt, wurde aber abhängig von der »wohlwollenden« Duldung durch die christlichen Herrscher. Damit endete die lange Tradition der Toleranz Roms gegenüber fremden Religionen und Kulten.

      Mit dem Beginn der christlichen Bautätigkeit in Jerusalem scheint das alte Dekret, das Juden den Zutritt zur Stadt untersagte, wieder verschärft worden zu sein. Jüdische Pilger durften fortan nur noch an einem bestimmten Tag im Jahr auf dem Tempelplatz öffentlich trauern. Grund dieses Zugeständnisses war nicht die Anteilnahme der christlichen Machthaber an ihrem Geschick, sondern die demütigende Demonstration ihrer Verworfenheit (vgl. Mk 13,1ff.). Es wird berichtet, dass die jüdischen Besucher der Stadt den römischen Wachen Geld zahlen mussten, um auf dem Tempelplatz Tränen über die Zerstörung des Heiligtums vergießen zu dürfen.

      Um 351 führten Aufstände gegen den römischen Statthalter Gallus zur Verwüstung zahlreicher jüdischer Siedlungen in Pa­läs­ti­na. Der Lehrbetrieb in den rabbinischen Schulen (»Jeschiwot«) verlagerte sich nun in die jüdischen Zentren Babyloniens, wo das Christentum nicht Fuß gefasst hatte (vgl. Kap. 1, Die östliche Diaspora). Im Jahre 362 unternahm der christliche Kaiser Julian I. »Apostata« (361–363) einen Versuch, das Jerusalemer Heiligtum wieder aufzubauen, doch tat er dies nicht aus Zuneigung zum Judentum, sondern allein aus machtpolitischen Erwägungen. Der Bau verzögerte sich jedoch durch einen Brand oder ein Erdbeben und wurde bald nach Julians überraschendem Tod eingestellt. Nachdem Jerusalem Teil des oströmischen Reiches geworden war, setzte sich die judenfeindliche Haltung der Kaiser fort. Theodosius II. (401–450) verbot 417 und 423 Eheschließungen von Juden mit Nichtjuden und untersagte die jüdische Mission. Die Judengesetzgebung Justinians I. (527–565) bedeutete weitere gravierende Eingriffe in die Religionsausübung sowie in die bürgerlichen Rechte und Schutzrechte der Juden. Unter anderem erließ er Verbote hinsichtlich des Gebrauchs der hebräischen heiligen Schriften in den Synagogen.

      Spätestens im 5. Jahrhundert gab es in Palästina mehr Christen als Juden. Folgt man den spätantiken christlichen Quellen, gewinnt man den Eindruck, dass im christlich-byzantinischen Jerusalem überhaupt keine Juden mehr lebten. Diese (theologisch begründete) Behauptung eines enormen Schrumpfens des jüdischen Bevölkerungsanteils entspricht jedoch nicht dem archäologischen Befund. Zwar zeigt die Mosaikkarte der Kirche von Madaba im Ostjordanland, die das byzantinische Jerusalem unter Justinian I. (527–565) darstellt, kein einziges jüdisches Bauwerk in der Stadt, die bereits 451 durch das Konzil von Chalcedon zum Bischofssitz erhoben worden war, aber das palästinische Judentum im 5. und 6. Jahrhundert blieb, obgleich in seiner Entfaltung eingeschränkt, in demographischer und wirtschaftlicher Hinsicht stabil.

      Tempel und Tempelopfer

      Für das Judentum in Palästina und in der gesamten antiken Welt war der Jerusalemer Tempel das verbindende Symbol der nationalen und religiösen Zusammengehörigkeit, selbst wenn man unter einer anderen Herrschaft loyal lebte. Die Angehörigen der 24 priesterlichen Dienstabteilungen (»Mischmarot«), denen man durch Familienzugehörigkeit angehörte, kamen aus ihren verschiedenen Wohnorten im ganzen Land in regelmäßigen Abständen zur Verrichtung ihres siebentägigen Opferdienstes nach Jerusalem.

      Die individuellen Aspekte des Opfers, die in den älteren Schichten der biblischen Überlieferung begegnen, etwa in den Vätergeschichten des Buches Genesis, traten in hellenistisch-römischer Zeit in den Hintergrund. Der Aspekt der allgemeinen Sühnefunktion des Tempelopfers (vgl. Lev 17,11 u.ö.) war hingegen umso bedeutender geworden; das Streben nach Sühne und Sündenvergebung wurde zum eigentlichen Beweggrund und Zweck vieler Opferhandlungen. Beides wurde dem gesamten Volk Israel und jedem einzelnen Frommen durch die fortwährenden und korrekt vollzogenen Opfer im Jerusalemer Tempel immer wieder von neuem geschenkt. Von ebenso hoher Bedeutung wie die Sühnefunktion des zentralisierten Tempelopfers war auch der Gedanke, dass der Kosmos durch den Jerusalemer Tempel als Mikrokosmos repräsentiert wird und dass die ritualgerechte Opferkult- und Festpraxis unmittelbar mit der kosmischen Ordnung zusammenhängen. Der Opferkult im Tempel sollte das Geschehen in der Welt beeinflussen. War das Tempelopfer in Ordnung, war auch die Welt in Ordnung. Darum wurde es als von größter Bedeutung für das individuelle Schicksal wie auch für das Ergehen aller Menschen verstanden, sämtliche Bestandteile und Regeln der vorgeschriebenen Opfervorschriften genauestens zu beachten und richtig auszuführen; im Glauben nahezu aller Juden in hellenistisch-römischer Zeit war dies von grundlegender Bedeutung. Ein solches Verständnis des Opfergottesdienstes im Jerusalemer Tempel muss als allgemeines und verbindendes Kennzeichen antiker jüdischer Frömmigkeit angesehen werden. Juden aller gesellschaftlichen Schichten in aller Welt entrichten deshalb anstandslos die Tempelsteuer.

      Die unterschiedlichen, mehr oder weniger prestigeträchtigen Aufgaben und Arbeiten bei den täglichen Tempelopfern, den Fest- und Privatopfern wurden unter den diensttuenden Priestern ausgelost. Die Opfer kamen entweder Gott selbst, dem Heiligtum oder dem amtierenden Kultpersonal zu. Auf dem freien Platz im Priesterhof östlich vom eigentlichen Tempelgebäude befand sich der steinerne Brandopferaltar, der über eine lange Rampe auf seiner Südseite zu erreichen war. Die Darbringung des täglichen Brandopfers (»Tamid«) auf diesem Altar stand neben der Darbringung des Räucheropfers im Heiligtum im Mittelpunkt des regelmäßigen Opfergottesdienstes, der am frühen Morgen (»Schacharit«; vgl. Kap.3, Der synagogale Gottesdienst) und am späten Nachmittag (»Mincha«; vgl. Kap.3, Der synagogale Gottesdienst) vor den Augen der im Vorhof der Israeliten versammelten Gemeinde stattfand.

      Beim täglichen Brandopfer stemmte ein Priester dem Opfertier zunächst seine Hände auf. Das Tier, ein einjähriges Lamm, wurde sogleich in ritueller Weise geschlachtet und sein Blut (vgl. Kap. 3, Speise- und Reinheitsgebote) aus einer Schale an die Ecken des Altars gesprengt. Der Hohepriester selbst amtierte dabei nur vor dem und am Versöhnungstag (vgl. Kap. 2, Die Tosefta), während der Sabbate (vgl. Kap. 3, Der Sabbat), an Neumondtagen und bei festlichen Anlässen. Andere Priester zerteilten den Kadaver. Darauf sprachen sie Gebete und Benediktionen (»Lobpreisungen«), bei denen die – männlichen und rituell reinen (vgl. Kap. 3, Speise- und Reinheitsgebote) – Juden, die dem Opfer im Vorhof der Israeliten beiwohnten, betend respondierten. Die einzelnen Stücke des Brandopfertieres wurden nacheinander in das Feuer geworfen, wo sie verbrannten. Begleitet wurde das gesamte Opfergeschehen vom Gesang der levitischen Tempelsänger. Beim täglichen Opfer und beim Brandopfer eines Privatmannes wurde das Opfertier ganz verbrannt, ohne dass die Priester oder der Spender etwas davon bekamen. Als private Brandopfer kamen nur makellose männliche Tiere in Betracht, und zwar Rinder, Schafe oder Ziegen (Lev 1). Lediglich die Haut des Opfertieres fiel dabei den Pries­tern zu (Lev 7,8). War der Spender bedürftig, konnten auch Turteltauben oder Tauben geopfert werden (Lev 14,21 f.).

      An Sabbat- und Festtagen fanden zusätzliche Opfer statt. Besonders zu den Wallfahrtsfesten wurden die täglichen Tempelopfer noch um viele private Dank- und Schuldopfer ergänzt. Als solche Fest- bzw. Heilsopfer kamen auch weibliche Tiere in Betracht. Verbrannt wurde nur ein Teil des Heilsopfertieres, nämlich die Fettteile, Nieren, Herz und Leber. Der opfernde Priester erhielt die Brust und den rechten Schenkel (Lev 7,31 f.). Der Rest musste vom Spender im Kreis seiner Familie oder Freunde innerhalb von 48 Stunden gegessen werden. Beim täglichen Kaiseropfer im Jerusalemer Tempel wurden nicht für den Kaiser, sondern zugunsten des römischen Herrschers – und von diesem selbst bezahlt – zwei Lämmer und ein Stier geopfert.

      Bis heute erhalten ist die Erinnerung an das Tempelopfer im Judentum