Grace seufzte. Sie ließ ihren Blick über den Parkplatz schweifen, denn sie wusste nicht mehr genau, wo ihr Vater den Geländewagen heute Morgen geparkt hatte. Sie schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab und wünschte, sie wäre heute selber gefahren. Dann könnte sie jetzt klammheimlich verschwinden und würde sich die Belehrungen auf dem Heimweg ersparen.
»Hey, Superstar!«
Grace drehte sich um und sah ihre Freundin Rachel näher kommen. »Hey, Rachel.« Sie blieb stehen, damit die Freundin sie einholen konnte.
»Du hast echt voll abgerockt heute«, sagte Rachel, als sie zu Grace aufgeschlossen hatte.
»Freut mich, dass wenigstens du das so siehst.«
»Also, ich meine …« Rachel verzog den Mund und überlegte, wie sie es am besten sagen sollte. »Ich meine, das war zeitweise ganz schön fetzig.«
»Aber fetzig ist doch gut, oder?« Grace runzelte die Stirn.
Rachel zuckte mit den Schultern. »Manchmal. Nicht immer.«
»Aber ist fetzig nicht besser, als wenn alle während des Lobpreises einschlafen?« Jetzt war es Grace, die die Stirn runzelte.
»Ich weiß nicht. Ich vermute, das Rockige ist manchen von den älteren Leuten nicht so recht.«
»Wo wir gerade von älteren Leuten reden.« Grace nickte mit dem Kopf in die Richtung, aus der ihre Eltern auf sie zukamen.
Rachel lachte. »Deine Eltern sind doch keine alten Leute!«
»Kommt ganz auf die Perspektive an.« Mit einem Klack öffnete sich das Auto und Grace legte die Gitarre in den Kofferraum.
»Ich muss dann mal los«, sagte Rachel.
»Ich komme morgen in den Buchladen«, sagte Grace. »Arbeitest du dann?«
»Wie immer.« Rachel winkte. »Bis dann.«
Grace verkroch sich auf den Rücksitz, wo sie versuchte, sich unsichtbar zu machen, und starrte auf ihr iPhone. Ihre scheinbar unbeirrten Eltern plauderten beim Einsteigen munter weiter. Es war der übliche Small Talk über Gemeinde und die Freunde, die sie getroffen hatten. Nach einer Weile ging das Ganze in eine Diskussion über die heutige Predigt über. Gelegentlich wurde auch Grace ins Gespräch einbezogen, aber ihre einsilbigen Antworten sprachen Bände. Sie starrte aus dem Fenster auf die verschlafenen Straßen von Homewood, Alabama. Auch wochentags war hier nicht gerade viel los, aber speziell an Sonntagen sah der Ort aus wie eine Geisterstadt.
»Du bist so still«, wandte sich ihre Mutter an sie. »Alles okay?«
»Alles bestens.« Natürlich meinte Grace genau das Gegenteil, wenn sie ein Wort wie »bestens« benutzte.
»Weißt du, Grace, eines Tages wirst du uns vermissen«, neckte ihr Vater sie. »Wenn du nächstes Jahr im College bist, wirst du dich an diese Zeiten erinnern und …«
»Ich habe nicht vor, aufs College zu gehen«, sagte sie abrupt. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, es ihnen auf diese Weise zu sagen, aber es wurde sowieso langsam Zeit.
»Was?« Ihre Mutter drehte sich zu ihr um.
»Ich habe nicht vor, aufs College zu gehen«, wiederholte sie die gefürchteten Worte.
»Natürlich hast du vor, aufs College zu gehen. Du hast doch schon einen Platz in …«
»Ich gehe nicht«, sagte sie bestimmt.
»Warum nicht?«, fragte ihre Mutter.
»Weil ich Musik machen will …«
»Das schon wieder …« Ihr Vater seufzte.
»Mach dich nicht über mich lustig«, bat sie ihn. »Ich bin achtzehn und damit alt genug, eigene Pläne zu schmieden. Ich will Musik machen! Das College wird mir dabei kaum …«
»Musik machen ist überhaupt kein Problem – nach dem College«, erwiderte ihr Vater bestimmt.
»Du weißt, wie schwer Musiker es haben.« Ihre Mutter wollte beschwichtigen. »Du brauchst etwas, auf das du zurückgreifen kannst, Grace. Musik unterrichten, zum Beispiel. Du bist eine tolle Lehrerin …«
»Ja, klar. Habt ihr das etwa noch nie gehört – wer Musik unterrichtet, ist eben zu blöd, Musik zu machen?«, sagte Grace bissig.
»So gehst du nicht mit deiner Mutter um!«, warnte sie ihr Vater. Zum Glück kamen sie in dem Moment zu Hause an und dieses nervende Gespräch würde bald zu Ende sein.
»Entschuldigung, Mama«, sagte sie schnell. Während das Garagentor sich langsam öffnete, sprang Grace aus dem Auto. In Windeseile war sie ums Haus gerannt, wo die Hintertür unverschlossen war, und in ihrem Zimmer verschwunden. Sie wusste, dass sie sich kindisch verhielt. Aber davon abgesehen, dass sie Abstand brauchte, wollte sie auch ein Signal setzen. Ihren Eltern sollte klar sein, dass sie es ernst meinte. Sie wollte nicht aufs College und ihre Eltern konnten sie nicht dazu zwingen. Oder?
Konnte sie mit achtzehn nicht tun und lassen, was sie wollte? Und was war mit all den anderen tollen Sängerinnen, die schon als Teenager ihre Karriere begonnen hatten? Warum durfte sie das nicht? Warum mussten ihre Eltern sie zurückhalten? Sie schloss die Zimmertür, streifte ihre Schuhe ab und schaltete den Laptop ein. Wenn sie jetzt keine Musikerkarriere starten durfte, wann dann? Es war doch Quatsch, den Traum für vier Jahre auf Eis zu legen, nur damit sie einen College-Abschluss bekam. Sie kannte genug College-Absolventen, die bei Starbucks oder McDonald’s arbeiteten. War das der Traum, den ihre Eltern für sie hatten?
Sie nahm ihren Laptop mit zum Sessel am Fenster. Die Klatschseite über Prominente, auf der sie gestern Abend gesurft hatte, war noch offen. Sally Benson war eine bekannte Bloggerin auf WideSpin.com und wusste immer Bescheid über die neuesten Nachrichten in der Musik-Szene. Grace las etwas über ihre Lieblingssängerin Renae Taylor. Renae war Ende zwanzig und schon seit fast einem Jahrzehnt im Geschäft. Sally Benson zufolge machte Renae gerade Urlaub auf Tahiti und schrieb Songs für ihr neues Album. Ein paar Paparazzi hatten es geschafft, ein paar coole Fotos von dem Megastar am Strand und im Nachtleben zu schießen. Was für ein Leben, dachte Grace. Sie nahm ihre Kopfhörer, um sich einen von Renaes aktuellen Songs anzuhören.
Sie wollte gerade ansetzen mitzusingen, als sie merkte, dass sich ihre Zimmertür öffnete. Sie riss sich die Kopfhörer von den Ohren und warf dem Eindringling einen bösen Blick zu, denn sie vermutete, dass es ihr Vater war. Konnte er ihr denn keine Privatsphäre mehr lassen?
»Entschuldige bitte.« Herein kam ihre Mutter. »Ich habe geklopft, aber du hast es wohl nicht gehört.«
»Oh.« Grace nickte.
»Hier ist deine Gitarre.« Ihre Mutter lehnte den Koffer an ihren Schreibtisch und blieb dort stehen.
»Danke.« Grace wollte sich wieder die Kopfhörer auf die Ohren schieben.
»Moment noch.« Ihre Mutter hob die Hand.
»Was denn?«
»Was das College angeht …« Ihre Mutter sah besorgt aus. »Ich verstehe, wie du dich fühlst, Grace, aber du musst auch unsere Sicht verstehen. Wir wissen, wie wichtig eine gute Ausbildung ist. Und ich glaube, du weißt es auch. Du warst immer fleißig in der Schule. Du bist eine gute Schülerin. Der nächste logische Schritt ist das College. Das siehst du doch bestimmt auch so.«
Grace zuckte mit den Schultern. »Nicht so wirklich.«
»Ich glaube, wir müssen uns mal mehr Zeit nehmen,