Ich war jetzt an der Stelle angekommen, wo vier Wege einander begegnen – der Weg nach Hampstead, auf dem ich zurückgekehrt war, der Weg nach Finchley, der nach West-End und der nach London. Ich hatte mechanisch den letzteren eingeschlagen und schlenderte langsam die Landstraße entlang – in unnützen Muthmaßungen, wie ich mich entsinne, über das Aussehen der jungen Damen in Cumberland – als in einem einzigen Augenblicke jeder Tropfen Blutes in meinem Körper durch die Berührung einer Hand, die leicht und plötzlich von hinten auf meine Schulter gelegt wurde, erstarrte.
Ich wandte mich schnell um, indem meine Finger sich fest um meinen Stock schlossen.
Da, in der Mitte des breiten, hellen Weges – da, als ob sie soeben aus dem Erdboden entsprungen oder vom Himmel gefallen wäre – stand die Gestalt einer einsamen Frau von Kopf bis zu Füßen in weißen Kleidern, ihr Gesicht in ernster Frage zu dem meinigen gewendet und mit der Hand auf die dunkle Wolke deutend, die über London hing.
Ich war über die seltsame Erscheinung, die so plötzlich in der tiefen Nacht an dieser einsamen Stelle vor mich hingetreten war, zu sehr erschrocken, um sie zu fragen, was sie verlange. Sie sprach zuerst.
»Ist das der Weg nach London?« sagte sie.
Ich sah sie aufmerksam an, als sie diese sonderbare Frage that. Es war jetzt beinahe ein Uhr. Alles, was ich deutlich im Mondlichte unterscheiden konnte, war ein farbloses, junges Gesicht, mager und spitz um Kinn und Wangen; große, ernste, sehnsüchtig aufmerksame Augen; nervöse, zuckende Lippen und helles Haar von lichter, braungelber Farbe. Es lag Nichts Wildes, Nichts Unbescheidenes in ihrer Manier; dieselbe war ruhig und gefaßt, ein wenig melancholisch und hatte einen kleinen Anflug von Argwohn; nicht gerade die Manieren einer Dame und doch auch nicht die einer Frau aus der niedrigsten Classe. Die Stimme, so wenig ich auch bis jetzt davon gehört, hatte etwas seltsam Stilles und Mechanisches in ihren Tönen, und ihre Sprache war außerordentlich schnell. Sie hielt eine kleine Tasche in der Hand, und ihre Kleidung – Hut, Shawl und Kleid, Alles weiß – war, soviel ich dies beurtheilen konnte, gewiß nicht von sehr zartem oder theuerem Stoffe. Ihre Figur war schlank und etwas über die mittlere Größe – ihr Gang und ihre Bewegungen frei von der geringsten Uebertreibung. Dies war Alles, was ich in dem matten Lichte und unter den verwirrend seltsamen Umständen unseres Begegnens von ihr sehen konnte, welch eine Art von Frauenzimmer sie war und wie sie dazu kam, eine Stunde nach Mitternacht ganz allein auf der Landstraße zu sein, war mir rein unmöglich zu errathen. Das Einzige, wovon ich mich überzeugt fühlte, war, daß selbst der roheste Mensch und trotz der verdächtig späten Stunde und jener verdächtig einsamen Stelle ihren Beweggrund, zu mir zu sprechen, nicht hätte mißdeuten können.
»Haben Sie mich gehört?« sagte sie, noch immer leidenschaftslos, aber schnell und ohne die geringste Gereiztheit oder Ungeduld. »Ich frug sie, ob das der Weg nach London sei.«
»Ja,« erwiderte ich, »das ist der Weg, er führt nach St. John’s Wood und Regent’s Park. Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich Ihnen nicht schneller antwortete. Ihr plötzliches Erscheinen erschreckte mich etwas, und ich kann mir dasselbe auch jetzt durchaus noch nicht erklären.«
»Sie beargwöhnen mich doch wohl nicht, daß ich irgend etwas Unrechtes begehe, wie? Ich habe Nichts Unrechtes begangen. Ich habe ein Unglück gehabt – ich bin sehr unglücklich, so spät hier allein zu sein, warum haben Sie mich im Verdacht, etwas Unrechtes gethan zu haben?«
Sie sprach mit unnöthiger Eindringlichkeit und Bewegung und zog sich mehrere Schritte von mir zurück. Ich that mein Möglichstes, sie wieder zu beruhigen.
»Ich bitte Sie, nicht zu glauben, daß ich daran denken könnte, einen Verdacht gegen Sie oder irgend etwas Anderes zu hegen, als den Wunsch, Ihnen nützlich zu sein, wenn ich kann. Ich erstaunte nur über Ihr Erscheinen auf der Landstraße, weil mir dieselbe einen Augenblick vorher völlig leer geschienen.«
Sie wandte sich um und deutete auf eine Stelle, wo der Weg nach London mit dem nach Hampstead zusammentraf und wo eine Oeffnung in der Hecke war.
»Ich hörte Sie kommen,« sagte sie, »und verbarg mich dort, um zu sehen, welch eine Art von Mann Sie seien, ehe ich es wagte, zu Ihnen zu sprechen. Ich zweifelte und fürchtete, bis Sie vorbeigegangen waren, und dann war ich genöthigt, hinter Ihnen herzuschleichen und Sie zu berühren.«
»Hinter mir herschleichen und mich berühren? Warum nicht mich anrufen? Seltsam, um mich gelinde auszudrücken!«
»Darf ich Ihnen trauen?« fragte sie, »Sie denken nicht schlechter von mir, weil ich ein Unglück gehabt habe, wie?« Sie schwieg in Verwirrung, indem sie ihre Tasche aus einer Hand in die andere nahm, und seufzte bitterlich.
Die Einsamkeit und Hilflosigkeit der Frau rührte mich tief. Der natürliche Antrieb, ihr zu helfen und sie schonend zu behandeln, siegte über das Urtheil, die Vorsicht und den weltlichen Takt, den ein älterer, weiserer und kälterer Mann in dieser seltsamen Lage zu Hilfe gerufen hätte.
»Für jeden harmlosen Zweck dürfen Sie mir vertrauen,« sagte ich. »Falls es Sie betrübt, mir Ihre seltsame Lage zu erklären, so sprechen Sie nicht weiter davon. Ich habe kein Recht, Erklärungen von Ihnen zu fordern. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann; wenn es mir möglich ist, will ich es thun.«
»Sie sind sehr gütig, und ich bin sehr, sehr froh, Ihnen begegnet zu sein.« In diesen Worten zitterte der erste Anflug von weiblicher Zärtlichkeit, den ich bis jetzt in ihrer Stimme nicht gehört hatte; doch in den großen, sehnsüchtig aufmerksamen Augen, die noch immer auf mich geheftet waren, glänzte keine Thräne. »Ich bin erst einmal in London gewesen,« fuhr sie fort, indem sie immer schneller sprach, »und ich kenne den Theil dort von der Stadt gar nicht. Kann ich einen Fiaker oder irgend einen Wagen bekommen? Ist es zu spät? Ich weiß es nicht, wenn Sie mir zeigen wollen, wo ich einen Fiaker finden kann – und nur versprechen, sich nicht um mich zu bekümmern und mich fort zu lassen, wann und wie ich will – ich habe eine Freundin in London, die mich mit Freuden aufnehmen wird – weiter will ich Nichts – wollen Sie mir’s versprechen?«
Sie schaute ängstlich den Weg hinauf und hinab, nahm wieder die Tasche aus einer Hand in die andere, wiederholte die Worte: »Wollen Sie mir’s versprechen?« und sah mir so bang und mit einer so flehenden Angst und Verwirrung in’s Gesicht, daß sie mich förmlich traurig machte.
Was konnte ich thun? Hier war ein fremdes, völlig hilfloses Wesen in meiner Macht – und dieses Wesen ein verlassenes Weib. Kein Haus war in der Nähe; Niemand ging vorüber, den ich hätte zu Rathe ziehen können, und ich besaß in der Welt nicht das kleinste Recht über sie, selbst wenn ich gewußt hätte, in welcher Richtung ich dieses Recht hätte geltend machen sollen.
Ich schreibe diese Zeilen mit Zagen, indem die Schatten späterer Ereignisse schon auf das Papier fallen, auf dem ich schreibe; aber dennoch frage ich: was konnte ich thun?
Was ich that, war, daß ich Zeit zu gewinnen suchte, indem ich sie befragte:
»Sind Sie gewiß, daß Ihre Freundin in London Sie zu so später Stunde noch aufnehmen wird?« sagte ich.
»Ganz sicher. Sagen Sie nur, daß Sie mich nicht hindern wollen, Sie, wann und wie ich will, zu verlassen – sagen Sie, daß Sie mich nicht hindern werden, wollen Sie mir’s versprechen?«
Als sie diese Worte zum dritten Male wiederholte, trat sie dicht an mich heran und legte ihre Hand mit einer plötzlichen sanften Schüchternheit auf meine Brust, eine magere Hand, eine kalte Hand (ich fühlte es, als ich sie mit der meinigen hinwegnahm) selbst in jener heißen Nacht. Bedenke man, daß ich jung war und daß die Hand, welche mich berührte, einer Frau gehörte.
»Wollen Sie mir’s versprechen?«
»Ja.«
Ein Wort! das kleine, gewöhnliche Wort, das zu jeder Stunde des Tages auf Jedermanns Lippen ist. Ach! und ich zittere, jetzt in dem Augenblicke, wo ich es niederschreibe. –
Wir wandten uns nach London zu und gingen zusammen in dieser ersten stillen Stunde des neuen Tages dahin – ich und diese Frau, deren Name und Charakter, deren