»Ich verstehe ihre Angst,« versetzte der Doktor »aber Sie thun Unrecht, sich so gänzlich der Verzweiflung hinzugeben. Gerade heute sind gute Nachrichten von dorther gekommen. Ehe er Polen verläßt, um in Rußland einzudringen, hat Napoleon dem Czaren seine letzten Forderungen und Friedensbedingungen kund thun lassen; seit Wochen schon ist man eifrig am unterhandeln und, wie es scheint, ist Aussicht da, den schrecklichen Krieg zu verhindern. In dem Falle kehren dann die Ausgehobenen ohne Zweifel sofort in ihre Heimath zurück.«
»Ist es wahr, was Sie sagen? Täuschen Sie mich nicht?« rief der Kaufmann und ein Strahl der Freude verklärte seine kummervollen Züge.
»Ich habe vorhin bei Herrn Walter einen Brief aus Warschau gelesen, in dem die Nachricht enthalten ist. Uebrigens sprechen auch schon die Zeitungen davon.«
»O wenn das wäre, wie herzlich wollte ich Gott für seine Güte danken!« rief der Viehhändler. »Mein Freund, Sie Sie wissen es nicht, wie elend es einen Vater macht, wenn er im Geiste seines Kindes Leiche blutig und verstümmelt auf dem Schlachtfelde liegen sieht.«
»Ich kann es mir lebhaft vorstellen,« sagte der Doktor mit einem Seufzer.
»Nein, das können Sie nicht, daß kann Niemand, der es nicht selbst erfahren hat, und am wenigsten Sie, der das Unglück nur von Hörensagen und an Anderen kennt. Ihr Ihr Bernhard und mein Jakob loosten an demselben Tage; Bernhard zog eine der höchsten Nummern und kam frei, mein armer Junge fiel bis über die Ohren herein. Noch nicht genug, ich gab dem ersten Stellvertreter fünftausend, dem zweiten siebentausend Franken. Beide desertierten. Ich wollte mein Haus belasten und ein noch größeres Opfer bringen, aber kein Ersatzmann war mehr zu finden, mein Jakob musste selbst den Tornister auf den Rücken nehmen. Meine Frau war drei Monate krank und ich bin fast von Sinnen. So etwas kann Ihnen nicht passieren.«
»Ich bekenne mit Dank gegen Gott, das; ich bisher glücklich war,« versetzte der Doktor, »hinsichtlich meines Sohnes würde ich indessen dennoch nicht vollkommen ruhig sein, wenn die günstigen Nachrichten aus Polen mir die Gefahr nicht aus weiter Ferne zeigten. Bernhard hat zwar ein sehr hohes Loos gezogen, aber wenn man, in Folge einer etwaigen Niederlage des Heeres, von Neuem ein paar Mal hunderttausend junge Leute aushöbe, wer sagt mir, daß Bernhards Nummer nicht ein die Reihe käme?«
»O, das ist undenkbar, so hoch wird man niemals steigen. Und außerdem haben Sie die Mittel, einen Stellvertreter zu bezahlen.«
»Wenn es deren nun aber keine mehr gibt, wie Sie selbst sagen’?«
»Für Sie würde sich schon Einer finden und müßte er aus der Erde kommen.«
»Jetzt träumen Sie aber wirklich, Freund Mark! Man kann sein ganzes Leben vom Glück begünstigt gewesen sein, – ein Tag, eine Stunde reicht hin, um daß Elend kennen zu lernen.«
»Sie müssen doch selbst gestehn, das; Sie ein echter Glücksvogel sind, Christian. Ihr Bernhard bleibt nicht allein vom Kriegsdienst verschont, nein, er macht auch noch die Bekanntschaft der Tochter des Millionärs Walter. – Sie hören, ich bin in die Sache eingeweiht – Wäre er nicht Ihr Sohn, so würde ich meinen Zweifel an dem Erfolge hegen; so aber wird jedenfalls eine Heirath das Ende sein.«
Der Doktor zuckte die Achseln.
»Davon sind wir noch weit entfernt,« murmelte er. »Ich glaube gern, daß Fräulein Walter meinem Bernhard gefällt, aber wie denkt sie über ihn? Und was würde ihr Vater sagen, wenn wir eine so ungleiche Verbindung in Vorschlag brächten?«
»Lassen Sie nur gut sein,« lieber Doktor, »Sie sind unter einem guten Stern geboren, Ihnen gelingt nun einmal Alles. Sagten Sie nicht selbst beim Hereinkommen, daß Ihnen auch heute wieder ein Glück begegnet sei? Wohl eine schöne Geldsache, he?«
»Nein, eine Herzenssache für mich. Ich wurde eiligst zu einem Gehöft bei Woluwe geholt, um einem Kinde zu helfen, das im Sterben liege. Mein Pferd ist gelähmt, so lief ich denn zu Fuß, so rasch ich konnte.
»Bei meiner Ankunft fand ich das Kind beinah schon todt, es hatte an einem Knochen genagt und ein Splitter davon war ihm in der Kehle stecken geblieben. Die verzweifelnden Eltern flehten unter Thränen um die Rettung ihres Kindes.
»Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es mir, den Knochen herauszuziehen. Als ich den Eltern mittheilte, daß die Gefahr überstanden und nichts mehr zu befürchten sei, knieten sie vor mir nieder und riefen den Segen des Himmels auf mich herab. Die Augen wurden mir feucht vor Mitgefühl und Freude, denn wenn die Sache im Grunde auch eine höchst einfache war, so hatte ich das Kind doch vom sicheren Tode gerettet, und diese Ueberzeugung gewährte mir als Mensch wie als Arzt die höchste Befriedigung.«
»Jedermann weiß, daß Sie ein gutes Herz haben, und so kann ich mir Ihre Freude über die Rettung des Kindes sehr wohl vorstellen. Doch auch von einem andern Gesichtspunkte aus wird dieser Erfolg von großem Vortheil für Sie sein. Die dankbaren Eltern erheben Sie natürlich bis in den Himmel und erzählen Jedem, der es hören will, was Sie für ein geschickter Mensch sind; außerdem werden sie nicht karg in der Bemessung Ihres Honoras sein.«
»Sie sind Tagelöhner.«
»Arme Tagelöhner?«
»Blutarm; das Elend, das in der Hütte herrschte, war traurig anzusehn.«
»Und da haben Sie wohl wie gewöhnlich in die Tasche gegriffen?«
»Was soll man machen, lieber Freund! Ich habe kein anderes Mittel, Gott zu danken, als hier und da etwas Gutes zu thun. Die Reichen müssen mich bezahlen, den Armen helfe ich umsonst, und Sie mögen es mir glauben oder nicht, ich fühlte mich am glücklichsten, wenn ich Darbenden helfen konnte, sei es durch meine Wissenschaft, sei es durch ein wenig Geld.«
Der Doktor leerte sein Glas und stand auf; sein Gefährte folgte seinem Beispiel.
In der dunkeln Straße wiederholte Christians noch einmal die guten Nachrichten, welche er in dem Briefe aus Warschau gelesen hatte und suchte dem Andern Hoffnung auf die Wiederkehr des Sohnes einzuflößen.
Dankbar drückte ihm dieser die Hand und entfernte sich dann nach der entgegengesetzten Richtung. Er wohnte in Schaerbeck, während Christian das Namer Thor erreichen mußte.
Um den Weg abzukürzen schlug er einen Pfad ein, der in vielen Windungen durch ein einsames Thal führte.
Es war finster; man konnte nur wenige Schritte vor sich sehn, die Gegend schien mit einem schwarzen Schleier verhüllt.
Der Doktor, der ein kräftiger Mann war und den Weg genau kannte, schritt langsam einher, er gedachte der Unterredung mit seinem Freunde und der Worte, die dieser ihm betreffs einer Verbindung seines Sohnes mit Fräulein Walter gesagt hatte. Sollte es Bernhard wirklich gelingen, ihre Hand zu erwerben, so mußte er jetzt reich werden, denn der alte Walter hatte nur zwei Kinder. Zwar stand die Aussicht einstweilen noch im weiten Felde, aber wer konnte es wissen? Wie der Viehhändler richtig bemerkt hatte, Gott war sichtlich mit ihm, und bist jetzt hatte das Glück ihn stets begünstigt.
War es nun schon an und für sich eine angenehme Sache, wenn der gute Bernhard Herr eines großen Vermögens wurde, so knüpfte sich daran für unsern Doktor noch ein persönlicher Vortheil. Er konnte dann an seine eigne Ruhe denken, seinen Beruf als Arzt aufgeben, um ihn nur bei Unbemittelten noch anzuwenden. Die übrige freie Zeit blieb ihm für seine Studien und für die Pflege von Blumen und fremdartigen Pflanzen, sowie für den angenehmen Verkehr mit guten Freunden.
Bis so weit hatte der Doktor seine freundlichen Zukunftsbilder fortgesponnen Der Pfad bog jetzt in einen Hohlweg ein, der von tiefen Wagengeleisen durchfurcht und schlecht zu passieren war.
Plötzlich sprang er einen Schritt zurück und hob zur Vertheidigung seinen Stock empor; er glaubte eine schwarze Gestalt, sei es die eines niederduckenden Menschen, sei es die eines Thieres, auf sich zuschleichen zu sehn. Was konnte