Einst war unser Kalender aktuell. Ich erinnere mich noch, wie ich bei unserer Ankunft vor drei Jahren den ersten Schnee sah, wie ich ihn genauer begutachtete, weil ich es nicht glauben konnte. Ich verstand nicht, wie auf der Kalenderseite Oktober stehen konnte. Ich nahm an, dass dieser frühe Schneefall nur eine Laune der Natur war. Aber ich lernte schnell, dass dem nicht so war. Diese Berge waren einfach hoch genug, einfach kalt genug, dass der Winter den Herbst grausam verschlingen konnte.
Wenn Bree nur einmal im Kalender zurückblättern würde, würde sie das alte Jahr dort stehen sehen, in großen, kitschigen Ziffern: 2117. Ganz offensichtlich drei Jahre alt. Ich rede mir selbst ein, sie wäre einfach zu sehr in ihrer vorfreudigen Aufgeregtheit gefangen, um genauer nachzusehen. Das hoffe ich zumindest. Aber in letzter Zeit beginnt ein Teil von mir, den Verdacht zu hegen, dass sie es tatsächlich weiß, dass sie es nur bevorzugt, sich ihrem Fantasiebild hinzugeben. Ich kann es ihr nicht übelnehmen.
Selbstverständlich haben wir schon seit Jahren keinen funktionstüchtigen Kalender mehr. Auch kein Handy, keinen Computer, keinen Fernseher, kein Radio, kein Internet und keinerlei andere Technologie – ganz zu schweigen von Strom oder fließend Wasser. Dennoch haben wir es irgendwie geschafft, nur wir beide, drei Jahre lang auf diese Weise. Die Sommer waren erträglich, wir mussten an weniger Tagen hungern. Zumindest können wir im Sommer angeln, und die Bergbäche scheinen immer Lachse zu führen. Beeren gibt es auch, und sogar ein paar wilde Gärten mit Apfel- und Birnbäumen, die noch immer Früchte tragen, nach all dieser Zeit. Gelegentlich schaffen wir es sogar, ein Kaninchen zu fangen.
Die Winter dagegen sind unerträglich. Alles ist erfroren, oder tot, und jedes Jahr bin ich mir sicher, dass wir es nicht schaffen. Aber dieser Winter ist der schlimmste von allen. Dauernd sage ich mir, dass es schon werden wird, aber jetzt haben wir schon seit Tagen nicht mehr anständig gegessen, und der Winter hat gerade erst angefangen. Wir sind beide vom Hunger geschwächt, und jetzt ist Bree auch noch krank. Das verheißt nichts Gutes.
Während ich mich mühsam den Berg hinaufschleppe, auf der Suche nach unserer nächsten Mahlzeit dieselben freudlosen Schritte wie gestern erneut gehe, macht sich das Gefühl in mir breit, dass uns unser Glück verlassen hat. Nur der Gedanke an Bree, wie sie dort zuhause liegt und wartet, treibt mich voran. Ich höre auf, mich weiter zu bemitleiden, und halte mir ihr Gesicht vor Augen. Ich weiß, dass ich keine Medizin finden kann, aber ich hoffe, es ist nur ein Fieber, das vorübergehen wird, und dass ein gutes Essen und etwas Wärme alles sind, dessen sie bedarf.
Was sie wirklich bräuchte, ist ein Feuer. Aber ich entfache nie mehr eine Flamme in unserer Feuerstelle, ich kann den Rauch nicht riskieren, nicht den Geruch, der einen Sklavenschlepper auf unsere Spur bringen könnte. Aber heute werde ich ihr eine Überraschung bereiten und das Risiko eingehen, nur für eine kurze Weile. Für ein Feuer würde Bree alles tun, das wird ihre Lebensgeister heben. Wenn ich dann wenigstens noch eine Mahlzeit dazu auftreiben kann – und sei es so etwas Kleines wie ein Kaninchen – wird sie vollkommen genesen. Nicht nur körperlich. In diesen letzten Tagen habe ich gespürt, wie sie beginnt, die Hoffnung zu verlieren – ich kann es in ihren Augen sehen – und ich empfinde die dringende Notwendigkeit, dass sie stark bleibt. Ich weigere mich, mich zurückzulehnen und ihr dabei zuzusehen, wie sie entschwindet, wie es mit Mama geschehen ist.
Ein neuer Windstoß trifft mich im Gesicht, und dieser ist so lang und kräftig, dass ich meinen Kopf senken und warten muss, bis er vorbei ist. Der Wind dröhnt in meinen Ohren, und ich würde alles für einen richtigen Wintermantel geben. Ich trage nur einen abgetragenen Kapuzenpullover, einen, den ich vor Jahren am Straßenrand gefunden habe. Ich glaube, er hat einmal einem Jungen gehört, aber das ist gut, deswegen sind die Ärmel lang genug, um meine Hände zu bedecken, und können fast Handschuhe ersetzen. Mit 1,67 m bin ich nicht mehr wirklich klein, wer auch immer diesen Kapuzenpullover getragen hat, muss also auch schon recht groß gewesen sein. Manchmal frage ich mich, ob es ihn stören würde, dass ich seine Kleidung trage. Aber dann wird mir bewusst, dass er wahrscheinlich tot ist. Genau wie alle anderen.
Meine Hosen sind nicht viel besser. Es ist mir peinlich, das festzustellen, aber ich trage immer noch dasselbe Paar Jeans, das ich an hatte, als wir vor all diesen Jahren aus der Stadt entkommen sind. Wenn es eines gibt, was ich bedauere, dann, dass wir so hektisch aufgebrochen sind. Ich vermute, ich habe angenommen, ich würde hier oben irgendwo Kleidung finden, dass vielleicht noch ein Geschäft geöffnet hätte, oder es eine Heilsarmee gäbe. Das war dumm von mir: Natürlich waren alle Geschäfte längst geplündert worden. Es war, als ob sich die Welt über Nacht von einer Welt des Reichtums in eine Welt der Kargheit verwandelt hätte. Ich hatte immerhin ein paar Kleidungsstücke gefunden, die in Schubladen im Haus meines Vaters herumgelegen hatten. Diese hatte ich Bree gegeben, ich war froh, dass wenigstens ein paar von seinen Sachen, seine warme Unterwäsche und seine Socken, sie warmhalten konnten.
Endlich hört der Wind wieder auf und ich hebe den Kopf und beeile mich, bevor er wieder beginnen kann, ich verdoppele meine Geschwindigkeit, bis ich das Plateau erreiche.
Als ich oben ankomme, schwer atmend, meine Beine brennend, sehe ich mich langsam um. Hier oben stehen weniger Berge, und in der Ferne gibt es einen kleinen Bergsee. Er ist gefroren wie alle anderen, und die Sonne darauf blendet so sehr, dass ich blinzeln muss.
Sofort sehe ich zu meiner Angel hinüber, der, die ich am Vortag dort gelassen habe, eingeklemmt zwischen zwei Felsen. Sie steht schräg über dem See, eine lange Schnur daran hängt in das kleine Loch im Eis. Wenn die Rute gebogen ist, heißt es, dass Bree und ich heute Abendessen haben werden. Wenn nicht, weiß ich, dass es nicht funktioniert hat – wieder nicht funktioniert hat. Ich eile zwischen ein paar letzten Bäumen hindurch, durch den Schnee, und sehe genauer nach.
Die Rute ist gerade. Natürlich.
Mir schwindet der Mut. Ich überlege, ob ich rausgehen soll aufs Eis, meine kleine Axt benutzen und woanders ein Loch bohren. Aber ich weiß schon, dass das nichts ändern wird. Das Problem ist nicht die Position – das Problem ist der See. Der Boden ist zu gefroren, als dass ich Würmer ausgraben könnte, und ich wüsste nicht einmal, wo ich nach ihnen suchen sollte. Ich bin kein geborener Jäger oder Fallensteller. Hätte ich gewusst, dass ich hier oben enden würde, hätte ich meine ganze Kindheit bei den Pfadfindern verbracht und Überlebenstechniken gelernt. Aber nun stelle ich fest, dass ich fast nichts kann. Ich weiß nicht, wie man Fallen stellt, und meine Angeln fangen selten etwas.
Als Tochter meines Vaters, eines Marines, gibt es nur eine Sache, in der ich gut bin – ich weiß, wie man kämpft – aber das ist hier oben nutzlos. Ich könnte mich gut gegen Zweibeiner verteidigen, aber gegen das Tierreich bin ich hilflos. Schon als ich ganz klein war, bestand mein Vater darauf, dass ich seine Tochter war – also die Tochter eines Marines – und war stolz darauf. Er wollte in mir auch den Sohn sehen, den er nie hatte. Er brachte mir Boxen bei, Wrestling, alle möglichen Kampfsportarten … Ich hatte endlosen Unterricht darin, wie man ein Messer genutzt, wie man ein Gewehr abschießt, wie man Druckpunkte findet, wie man schmutzig kämpft. Vor allem aber bestand er darauf, dass ich hart sein sollte, dass ich keine Angst zeigen sollte, und dass ich niemals weinen sollte.
Ironischerweise hatte ich nie die Gelegenheit, auch nur irgendetwas von dem zu verwenden, was er mir beigebracht hatte, und hier oben nutzt es mir noch weniger. Es ist niemand anderes zu sehen. Was ich wirklich wissen muss, ist, wie man Essen findet – nicht, wie man jemanden schlägt. Und wenn ich jemals jemanden treffen sollte, werde ich ihn nicht angreifen, sondern um Hilfe bitten.
Ich denke angestrengt nach und mir fällt ein, dass es hier oben noch einen anderen See gibt, einen kleineren. Ich habe ihn einmal im Sommer gesehen, als ich abenteuerlustig war und den Berg weiter hochgewandert bin. Es sind steile vierhundert Meter, und ich habe seit dem nicht hoch einmal dort hochgegangen.
Ich sehe auf und seufze. Die Sonne geht schon unter, ein verdrießlicher Winter-Sonnenuntergang in einem rötlichen Farbton, und ich bin schon schwach und müde und durchgefroren. Ich werde meine Kraft noch brauchen, um den Berg wieder herunterzukommen. Das letzte, was ich will, ist, noch höher zu klettern. Aber eine