Memoiren einer Grossmutter, Band II. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert
Vorwort
Ermutigt durch die Anerkennung, die der erste Band gefunden hat, gehe ich mit freudigem Bewußtsein an die Herausgabe des zweiten Bandes meiner Memoiren.
Dem Vorhaben gemäß, treu und ungekünstelt die Vergangenheit zu schildern, wie sie noch heute in meinem Herzen und meiner Erinnerung lebt, will ich hier den Faden meiner Erzählung weiterspinnen und Bilder entschwundener Zeiten vorbeiziehen lassen. Ich will nicht daran denken, daß es ein Buch werden soll. Ich setze mich wieder an den alten gemütlichen Platz und erzähle: Von meiner Verlobung, vom Brautjahr, von der Hochzeit und all dem, was noch nachher kam.
Die Aufzeichnungen dieses Bandes stehen teilweise noch unter dem Zeichen des jugendlichen Frohsinns, der mich in meiner Braut- und Vermählungszeit umfing, des ehelichen Glückes, das noch in jenes goldene Zeitalter fiel, in dem die jüdischen Familien und Ehen fest gefügt waren und aufgebaut auf dem Boden der Liebe, der Treue und der Freundschaft.
Aber die alten Zeiten schwanden und mit ihnen manches Schöne und Große des jüdischen Lebens. Neue Zeiten kamen, die neue Sitten brachten. Andere Saiten wurden angeschlagen, und allmählich bildeten sich neue Werte. Der Zeitgeist zerriß das patriarchalisch-beschauliche jüdische Familienleben und höhlte eine Kluft zwischen den Alten und den Jungen.
Aber ich danke Gott, daß es ihm gefiel, mich bis zu diesem Tage zu erhalten, und daß es mir vergönnt war, die Stunde schlagen zu hören, die so große Wandlungen im jüdischen Leben brachte, das Wiedererwachen der Zionsliebe, das Ringen um die volksverwaiste Jugend. Gleich an dem ersten Klang erkannte das alte Herz die große jüdische Melodie, die so lange geschwiegen und einst so tief und so weit ertönte…
Zieht nun hinaus, ihr Blätter in die Welt. Ihr waret mein tröstender Schatz, da sich Gewitterwolken um meine Heimat ballten. Wolken, aus denen grausig die Gespenster des Mittelalters lugten. Einsam und verlassen zog ich in ein gastliches Land. Bei meinen Schwestern Käthe und Helene in Heidelberg fand die wandermüde Greisin ein Heim. Die Liebe endet nimmer. Ich hatte Helene einst in schwerer Krankheit gepflegt, hatte ihren Kummer getragen gleich wie den meinen. Nun nahm sie die Einsame auf. Eine Heimat wurde mir der große, viereckige Tisch in ihrem Zimmer, auf dem meine Zettel lagen, die armseligen Reste eines reichen Lebens. Aber der milde Glanz vergangener Tage lag über ihnen. Die Erinnerung hob die steinernen Male von den Grüften der Zeiten und weckte die Vergangenheit zu neuem Sein. Es waren wundersame Stunden. Weißt du noch, Helene? Wie oft lachten wir in den Unmut der Gegenwart hinein in seligen Gedanken! Und ach, die Tränen, die dummen, wie oft umflorten sie unsere Blicke…
Zieht nun hinaus, ihr Blätter, in die Welt! Aus der Liebe seid ihr geworden, die Liebe hat euch behütet in meinen Wanderjahren. Bringt nun auch die Liebe zum alten Volkstum meinen jungen Brüdern und Schwestern!…
Ob ihr die Kraft habt zu diesem beglückenden Segen – ich weiß es nicht. Aber ich möchte es so gerne hoffen. Und ich darf es vielleicht hoffen, ohne darum schon als eitel zu gelten, weil ein Mann, der meine Erinnerungen liebte, mir den Mut der Hoffnung gab. Dr. Gustav Karpeles, der so früh dahinging, dieser gütige und kenntnisreiche Mann, schrieb mir die folgenden Briefe, den letzteren Brief noch kurz vor seinem Tode. Ich setze sie hierher, und mag ihm selbst nur seine Liebenswürdigkeit gegen eine Greisin die Feder geführt haben.
Ich habe Ihre Arbeit sofort mit dem größten Interesse gelesen.
Für eine einmal wöchentlich erscheinende Zeitschrift sind, wie gesagt, Ihre Memoiren nicht zu verwenden, da diese in einem so großen Werk völlig ertrinken würden. Dagegen wäre es wünschenswert, wenn diese interessanten Zeit- und Kulturbilder in Buchform erschienen.
Das Kapitel über Dr. Lilienthal bin ich übrigens gern bereit, in der »Allgemeinen Zeitung des Judentums« abzudrucken, und wenn Sie damit einverstanden sind, bitte ich Sie, es mir freundlichst retournieren zu wollen.
Ich habe auch Ihr neues Manuskript mit großem Interesse gelesen und finde, daß der zweite Band mindestens so interessant ist wie der erste, ja zum Teil noch viel interessanter. Ich bin auch überzeugt, daß derselbe viel gelesen werden wird.
Wenn ich auch selbstverständlich nicht wieder ein Vorwort dazu schreiben kann, was ja ausgeschlossen ist, so will ich doch in der »A. Z. d. J.« und im »Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur« darüber berichten und das Werk empfehlen, wo ich nur kann.
Mit den besten Wünschen und Grüßen bleibe ich Ihr verehrungsvoll ergebener
Motto:
Verwirf mich nicht zur Zeit des Alters;Wenn meine Kraft schwindet, verlaß mich nicht;
Verwirf mich nicht von deinem Angesicht,Und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir.
Zweite Periode der Aufklärung
In dem ersten Bande meiner Memoiren habe ich von dem bedeutungsvollen Auftreten Dr. Lilienthals in Litauen erzählt, von seiner hinreißenden Wirkung auf die Jugend, von seiner kulturellen Mission der bevorstehenden Chederreform, von den ersten Anfängen der beginnenden Aufklärung. Die Jugend, die bisher ausschließlich den Talmud studiert hatte, war von den neuen Gedanken begeistert und arbeitete mit einem heiligen Ernst an der eigenen geistigen Entwicklung. Ihr Ideal war die Vereinigung der allgemeinen Bildung mit dem Talmudstudium. Erst Lilienthal hatte dieses Verlangen, die engen Grenzen des alten Wissens zu erweitern und von dem »Apfel der Erkenntnis« zu kosten, zum sichtbaren Durchbruch gebracht.
Neben Lilienthal war es der Begleiter und Sekretär von Montefiore, Louis Loewe, der während seines Aufenthaltes in Rußland überall die Gelegenheit ergriff, die jüdische Jugend von der Notwendigkeit der europäischen Bildung zu überzeugen. Seine Worte fanden einen machtvollen Nachhall, denn Loewe war zugleich ein im westeuropäischen Sinne gebildeter Mann – und ein guter Talmudist: In ihm waren die idealen Forderungen der damaligen Jugend erfüllt. Loewe war wie kein zweiter geeignet, den neuen Werten Geltung zu verschaffen. War er doch der Begleiter Montefiores. Und es konnte nicht fehlen, daß die fast abgöttische Verehrung, die diesem großzügigen und tapferen Philanthropen in allen Ländern, wo Juden wohnten, zuteil ward, ihren Glanz auch um Loewe breitete. Wen Montefiore seiner ständigen Begleitung würdigte, der durfte offen sprechen. Er hatte nichts zu fürchten, und jeder hatte die Gewißheit, daß sein Wort einer reinen Überzeugung entwuchs und nur der Sicherung und Adelung des Judentums gelten konnte.
Es war im Jahre 1846. Ein kaiserlicher Ukas war erschienen, nach dem alle im Bereiche von fünfzig Werst von der russischen Reichsgrenze wohnenden Juden vertrieben werden sollten. Das war für viele Tausende Familien der Ruin.
Hier setzte die Arbeit Montefiores ein. Sie ging zum Siege. Die Ausführung der drakonischen Bestimmungen wurde zunächst wenigstens verhindert.
Es geschah nicht zum ersten Male, daß Montefiore sich seiner Glaubensgenossen annahm. Bei allen Juden Europas war die Erinnerung an jene denkwürdige Reise nach Egypten noch lebendig, wo Montefiore das entsetzliche Blutmärchen zerstört, die Bedrängten geschützt hatte und die Ehre des jüdischen Namens vor der Welt hatte wiederherstellen können.
Fast mehr noch als über den Erfolg seiner Arbeit in Rußland waren die Juden erfreut über die ehrenvolle Behandlung, die das würdige Greisenpaar erfuhr. In jeder größeren Stadt wurde Montefiore von einem hohen Beamten empfangen, der ihn bis zur nächsten Station begleitete. Die Herren mußten so handeln. Auf Geheiß der Regierung! Mochten sie auch ihren Ingrimm schlecht verhehlen.
Selbst am kaiserlichen Hofe wurde das Ehepaar wohlwollend empfangen, und die Höflinge behandelten Sir Montefiore, den englischen Sheriff, mit Ehrerbietung.
Kaiser Nikolaus I. war bei der letzten Audienz sehr huldvoll und versprach Montefiore, seinen Glaubensgenossen gegenüber nachsichtiger zu handeln, bemerkte aber zum