Noch aus einem anderen Grunde erscheint diese neue Auffassung der Tiefseeböden unabweisbar. Es war schon oben darauf hingewiesen worden, daß es nach den neueren Ergebnissen der tektonischen Forschungen, insbesondere über den Deckfaltenbau der Gebirge, nach dem Urteil aller Spezialforscher unmöglich ist, diese gewaltigen Zusammenschübe auf Rechnung einer Kontraktion des Erdkörpers zu setzen. Wir verzichten hier auf eine Wiedergabe der Beweisführung, weil dies anscheinend ein heute allgemein anerkannter Satz ist. Wenn dies aber richtig ist, wenn also die Erde nicht in dem Maße kleiner geworden ist, wie ihre Rinde sich zusammenschob, so ist es ein logisch unvermeidbarer, nur bisher noch nicht gezogener Schluß, daß dann den großen Zusammenschüben andere Stellen gegenüberstehen müssen, wo die Rinde aufriß und die Erdoberfläche nicht mehr vollständig bedeckt. Auch dieser Schluß ist so einfach und selbstverständlich, daß ich nicht sehe, wie man ihn umgehen könnte.
Nach E. Kayser35 sind die ältesten archäischen Gesteine überall auf der Erde stark gestört und gefaltet und finden sich ungefaltete Ablagerungen erst hier und da im Algonkium. Viele Gebiete erfuhren auch mehrmalige Faltungen, z. B. wurde das Alpengebiet bereits einmal im Karbon gefaltet. Ziehen wir in Betracht, daß nach unseren bisherigen Erfahrungen ein Zusammenschub auf die Hälfte des ursprünglichen Areals einen nicht unwahrscheinlichen Wert für eine einmalige Faltung darstellt, so erscheint es durchaus erklärlich, daß die Lithosphäre heute nur noch ein Drittel der Erdoberfläche bedeckt36.
Die Frage nach der Natur der Tiefseeböden wäre sehr leicht zu lösen, wenn man Proben des anstehenden Gesteines von dort erhalten könnte. Leider ist das bisher nicht möglich. Allein man hat mit Dredschzügen große Mengen von Gesteinsbrocken und kleinen und kleinsten Splittern heraufgebracht, und man hat namentlich den roten Tiefseeton einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Nach Krümmel37 hat sich Wyville Thomson, der Leiter der Challenger-Expedition, nachdem er anfänglich anderer Meinung gewesen war, später der schon 1877 von John Murray vertretenen Ansicht angeschlossen, daß der rote Ton von der Zersetzung vulkanischen Materials herrühre. Beseitigt man die 6,7 Proz. Kalk, so bleiben Mineralien von sehr verschiedenem Ursprung. „Die Hauptmasse freilich ist, wie schon das Dredschmaterial erweist, vulkanisch, namentlich überwiegen Bimssteine aller Arten und Dimensionen…, sodann begegnen die Trümmer von Sanidin, Plagioklas, Hornblende, Magnetit, vulkanischem Glas und dessen Zersetzungsprodukt Palagonit, auch Lavabrocken von Basalten, Augitandesiten usf.“ John Murray meint, daß die vulkanischen Aschen am meisten vertreten seien; „nach seines Arbeitsgenossen Renard Ansicht aber sind es noch mehr die submarinen Eruptionen“. John Murrays Ansicht ist wohl wenig wahrscheinlich. Denn wenn wirklich die ungeheuren Flächen der Tiefsee in solcher Weise mit Vulkanaschen überlagert wären, dann müßten diese Aschenregen doch wohl größere Spuren auch auf dem Lande hinterlassen haben. Aber auch Renards Ansicht kann in dieser Form kaum das Richtige treffen. Denn wenn es bloße Ausbrüche sind, wie sie auch auf dem Festlande sich vollziehen, warum bedecken diese Produkte auf dem Tiefseeboden so ungeheure Flächen? Viel einfacher und natürlicher ist unsere Annahme, daß der Tiefseeboden grundsätzlich aus diesem Material besteht. Vielleicht sehen wir auf Island, wie vorgreifend erwähnt sei, ein Stück solchen Tiefseebodens, der durch darunter geflossenes oder geschobenes lithosphärisches Material [Sial]38 gehoben ist. Vielleicht ist eine ähnliche Entstehung auch für das merkwürdige „Senkungsdreieck“ im Winkel zwischen Abessinien und der Somalihalbinsel (zwischen Ankober, Berbera und Massaua) anzunehmen. Das ganze Land besteht auch hier aus jungen vulkanischen Laven und sieht nach Traversi aus wie eine durch eine riesige Feuersbrunst zerstörte Gegend, hat also große Ähnlichkeit mit den isländischen Lavawüsten. Man darf hier vielleicht annehmen, daß das untergeschobene Sial von der Unterseite des abessinischen Gebirgslandes stammt, welch letzteres vielleicht eine Stauchung darstellt, die bei einer Drehung (Schleppung) der Somalihalbinsel nach Norden im Zusammenhang mit dem großen lemurischen Zusammenschub entstand. Auch die Abrolhos-Bank an der brasilianischen Küste dürfte in ähnlicher Weise auf ein Herausquellen flüssiger Sialmassen von der Unterseite der südamerikanischen Scholle zurückzuführen sein und würde vielleicht, wenn sie sich über den Meeresspiegel erhöbe, eine ähnliche Basalthaube zeigen. Vielleicht ist auch der Schelf der Seychellen in gleicher Weise am Rande von Madagaskar entstanden und sodann von diesem abgetrieben.
Einen weiteren Beweis für die Richtigkeit unserer Anschauung liefert, worauf mich A. Nippoldt aufmerksam machte, der Erdmagnetismus.
In der Theorie des Erdmagnetismus wird allgemein angenommen, daß die Abweichung der magnetischen Pole von den Rotationspolen der Erde durch die unregelmäßige Verteilung der Kontinentaltafeln und Tiefseeböden erzeugt wird. Henry Wilde (Roy. Soc. Proc. June 19, 1890 und January 22, 1891) hat ein viel diskutiertes magnetisches Modell der Erde gebaut, bei welchem er die größte Annäherung an die wirkliche Verteilung des Erdmagnetismus dadurch erzielte, daß er die Ozeanflächen mit Eisenblech belegte. A. W. Rücker39 beschreibt diesen Versuch mit den Worten: „Herr Wilde hat ein gutes magnetisches Modell der Erde mit einer Versuchsanordnung vorgeführt, die aus der Wirkung eines primären Feldes einer gleichförmig magnetisierten Kugel und eines sekundären Feldes von Eisenmassen bestand, welche nahe der Oberfläche lagen und durch Induktion magnetisiert wurden. Die Hauptmasse des Eisens ist unter den Ozeanen angebracht… Herr Wilde legt das Hauptgewicht auf die Bedeckung der Ozeane mit Eisen.“ Auch Raclot40 hat neuerdings bestätigt, daß dieser Versuch von Wilde in rohen Zügen das Verteilungsbild des Erdmagnetismus gut darstellt, so daß geschlossen werden muß, daß unter den Ozeanen eisenhaltigeres Gestein liegt als unter den Kontinenten. Da bekanntlich allgemein angenommen wird, daß bereits in dem Silikatmantel der Erde der Eisengehalt mit der Tiefe wächst und das Erdinnere weiterhin überhaupt vorwiegend aus Eisen besteht, so besagt dies, daß die Tiefseeböden eine tiefere Schicht der Erde darstellen und aus den eisenhaltigen Gesteinen der im nächsten Kapitel zu besprechenden Simagruppe (Hauptvertreter: Basalt) bestehen. Der Erdmagnetismus begegnet sich also in diesem Resultat mit den Schweremessungen, welche ein schwereres Gestein verlangen (was gleichfalls für Basalt erfüllt ist). Aber sein Ergebnis ist viel eindeutiger; denn bekanntlich erlischt der Magnetismus bei der Temperatur der Rotglut, welche unter Zugrundelegung der gewöhnlichen geothermischen Tiefenstufe41 bereits in etwa 15 bis 20 km Tiefe erreicht wird. Der starke Magnetismus der Tiefseeböden muß also gerade schon in den obersten Gesteinschichten vorhanden sein, ein deutliches Anzeichen dafür, daß hier in der Tat die schwächer magnetische Lithosphäre ganz fehlt.
Ein weiteres, wenn auch weniger deutliches Anzeichen für die Richtigkeit unserer Auffassung bildet die Schlichtheit des Tiefseebodens. Schon vor langer Zeit ist man darauf aufmerksam geworden, daß der Tiefseeboden über weite Strecken oft erstaunlich geringe Höhenunterschiede zeigt, ein Umstand, der nicht ohne praktische Bedeutung für die Kabellegung ist. Z. B. sind unter den 100 Lotungen, welche für das Kabel zwischen den Midway-Inseln und Guam auf einer Strecke von 1540 km ausgeführt wurden, die Extremwerte (5510 und 6277 m) nur um 767 m verschieden. Auf einer 10 Seemeilen langen Teilstrecke, bei der das Mittel aus 14 Lotungen 5938 m ergab, waren die größten Abweichungen +36 und -38 m42. Allerdings ist der Satz von der Schlichtheit des Tiefseebodens in neuerer Zeit etwas eingeschränkt worden, da sich herausstellte, daß das Lotungsnetz meist noch zu weitmaschig ist, um solche Schlüsse zu gestatten, und daß man auch auf dem Lande bei ähnlich zerstreuten einzelnen Höhenmessungen einen irrtümlichen Eindruck großer Schlichtheit gewinnen kann. Mit Krümmel sind aber wohl die meisten Forscher von der zeitweilig übertriebenen Skepsis zu der Auffassung zurückgekehrt, daß – abgesehen von den Tiefseerinnen – dennoch ein solcher grundsätzlicher Unterschied zwischen Land und Tiefsee besteht, während doch wegen des Gewichtsverlustes unter Wasser die Böschungen dort viel steiler sein könnten als in der Luft. In dieser größeren Schlichtheit tut sich eine größere Plastizität, ein höherer Grad von Flüssigkeit der Tiefseeböden kund.
Eine Äußerung