Die Wahlverwandtschaften. Johann Wolfgang von Goethe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johann Wolfgang von Goethe
Издательство: Public Domain
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Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 0
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sich nicht zurückhalten.

      Ich führte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit ihr über die Sache.

      Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler.

      Wir berieten, wir besprachen uns lange, und ohne deshalb weitläufiger zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschluß und unsre Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen.

      Die Gründe werden Sie sich selbst am besten entfalten.

      Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr über die Behandlung des guten Kindes.

      Verläßt uns dann Ihre Fräulein Tochter, wie zu vermuten steht, so sehen wir Ottilien mit Freuden zurückkehren.

      Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen könnte: ich habe nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten hätte.

      Dagegen kommen Fälle, wiewohl selten, daß sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert.

      Sie tut das mit einer Gebärde, die für den, der den Sinn davon gefaßt hat, unwiderstehlich ist.

      Sie drückt die flachen Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen und führt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daß er gern von allem absteht, was er verlangen oder wünschen möchte.

      Sehen Sie jemals diese Gebärde, gnädige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken Sie meiner und schonen Ottilien".

      Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Lächeln und Kopfschütteln.

      Auch konnte es an Bemerkungen über die Personen und über die Lage der Sache nicht fehlen.

      "Genug!" rief Eduard endlich aus; "es ist entschieden, sie kommt!

      Für dich wäre gesorgt, meine Liebe, und wir dürfen nun auch mit unserm Vorschlag hervorrücken.

      Es wird höchst nötig, daß ich zu dem Hauptmann auf den rechten Flügel hinüberziehe.

      Sowohl abends als morgens ist erst die rechte Zeit, zusammen zu arbeiten.

      Du erhältst dagegen für dich und Ottilien auf deiner Seite den schönsten Raum".

      Charlotte ließ sichs gefallen, und Eduard schilderte ihre künftige Lebensart.

      Unter andern rief er aus: "es ist doch recht zuvorkommend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten.

      Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Ellbogen, sie auf den linken gestützt und die Köpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so muß das ein Paar artige Gegenbilder geben".

      Der Hauptmann wollte das gefährlich finden.

      Eduard hingegen rief aus: "nehmen Sie sich nur, lieber Freund, vor dem D in acht!

      Was sollte B denn anfangen, wenn ihm C entrissen würde?" "Nun, ich dächte doch", versetzte Charlotte, "das verstünde sich von selbst".

      "Freilich", rief Eduard; "es kehrte zu seinem A zurück, zu seinem A und O!" rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust drückte.

      Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren.

      Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr zu nähern, warf sich ihr zu Füßen und umfaßte ihre Kniee.

      "Wozu die Demütigung!" sagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war und sie aufheben wollte.

      "Es ist so demütig nicht gemeint", versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb.

      "Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht höher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiß war".

      Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich.

      Sie ward den Männern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt.

      Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast.

      Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran teilgenommen hätte.

      Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: "es ist ein angenehmes, unterhaltendes Mädchen".

      "Unterhaltend?" versetzte Charlotte mit Lächeln;" sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan".

      "So?" erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, "das wäre doch wunderbar!" Charlotte gab dem neuen Ankömmling nur wenig Winke, wie es mit dem Hausgeschäfte zu halten sei.

      Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja, was noch mehr ist, empfunden.

      Was sie für alle, für einen jeden insbesondre zu besorgen hatte, begriff sie leicht.

      Alles geschah pünktlich.

      Sie wußte anzuordnen, ohne daß sie zu befehlen schien, und wo jemand säumte, verrichtete sie das Geschäft gleich selbst.

      Sobald sie gewahr wurde, wieviel Zeit ihr übrigblieb, bat sie Charlotten, ihre Stunden einteilen zu dürfen, die nun genau beobachtet wurden.

      Sie arbeitete das Vorgesetzte auf eine Art, von der Charlotte durch den Gehülfen unterrichtet war.

      Man ließ sie gewähren.

      Nur zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen.

      So schob sie ihr manchmal abgeschriebene Federn unter, um sie auf einen freieren Zug der Handschrift zu leiten; aber auch diese waren bald wieder scharf geschnitten.

      Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, französisch zu reden, wenn sie allein wären, und Charlotte beharrte um so mehr dabei, als Ottilie gesprächiger in der fremden Sprache war, indem man ihr die übung derselben zur Pflicht gemacht hatte.

      Hier sagte sie oft mehr, als sie zu wollen schien.

      Besonders ergetzte sich Charlotte an einer zufälligen, zwar genauen, aber doch liebevollen Schilderung der ganzen Pensionsanstalt.

      Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie hoffte, dereinst an ihr eine zuverlässige Freundin zu finden.

      Charlotte nahm indes die älteren Papiere wieder vor, die sich auf Ottilien bezogen, um sich in Erinnerung zu bringen, was die Vorsteherin, was der Gehülfe über das gute Kind geurteilt, um es mit ihrer Persönlichkeit selbst zu vergleichen.

      Denn Charlotte war der Meinung, man könne nicht geschwind genug mit dem Charakter der Menschen bekannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wissen, was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden läßt, oder was man ihnen ein für allemal zugestehen und verzeihen muß.

      Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender.

      So konnte ihr zum Beispiel Ottiliens Mäßigkeit im Essen und Trinken wirklich Sorge machen.

      Das Nächste, was die Frauen beschäftigte, war der Anzug.

      Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen.

      Sogleich schnitt das gute, tätige Kind die ihr früher geschenkten Stoffe selbst zu und wußte sie sich mit geringer Beihülfe anderer schnell und höchst zierlich anzupassen.

      Die neuen, modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt; denn indem das Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt.

      Dadurch ward sie den Männern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost.

      Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut, ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausübt, so wirkt die menschliche Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und innern Sinn.

      Wer sie erblickt, den kann nichts übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in übereinstimmung.

      Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen.

      Die