Die stählerne Mauer. Ganghofer Ludwig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ganghofer Ludwig
Издательство: Public Domain
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Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 0
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des Inhalts erließ: »Es gibt keinen Heiligen Krieg. Die Deutschen sind Betrüger und Lügner. Ihr werdet mit Verachtung auf sie herabsehen, wie der Kluge auf den Dummen!«

      Ob dieser wahrheitsliebende General nicht eine Nachblüte des edlen Sir John Falstaff ist, der in England nach glaubwürdigem Zeugnis viele, viele Kinder seines Geistes hinterließ?

      2

8. März 1915.

      Lille ist eine schmucke Stadt, obwohl sie gegenwärtig mit etwas forcierten Kontrasten wirken muß: neben dem Prunkbau der neuen Oper liegt das Trümmergewirre eines völlig zusammengeschossenen und niedergebrannten Häuserviertels. Das Liller Leben hat sich vom Schreck schon erholt und flutet lärmend an diesen Schuttstätten vorüber. An einer Straßenecke sah ich einen Menschenauflauf und hörte Witzworte, die bei den Franzosen lautes Gelächter weckten. Ein Maueranschlag – die Übersetzung des deutschen militärischen Tagesberichtes – verkündete den Lillern die Niederlage der Franzosen in der Champagne. »Deutsche Lügen, natürlich!« So gehirnschwächlich sind die Liller nicht, um so was zu glauben! Nichts glauben sie, gar nichts, wenn es von den Deutschen kommt. Aber wenn sie zuweilen eine eingeschmuggelte Nummer des »Matin« oder »Temps« erwischen, dann wird sie hundertmal abgeschrieben, und man kolportiert in Lille dieses verläßliche Evangelium der historischen Tatsachen um zwei und drei Franken pro Exemplar.

      Erbitterte Feinde? Nein! Das sind törichte, unzurechnungsfähige Kinder, die man mit einiger Nachsicht beurteilen muß – aber nicht mit Nachlaß der Taxen. Denn manchmal gewinnen die Unüberlegtheiten der Liller ein bedenkliches Aussehen. In ihrem athletenhaften gallischen Optimismus prophezeiten sie seit Monaten in jeder Woche für irgendeinen Tag einen großen Angriff und Sieg der Franzosen, den Entsatz ihrer Stadt und die Verjagung der Deutschen. Auch für den 3. März lief in Lille eine solche Prophezeiung um. Sie erfüllte sich auch, nur mit vertauschten Rollen. Die Deutschen griffen an, eroberten bei Arras mehrere Schützengräben und machten gegen sechshundert Gefangene. Sie wurden durch die Straßen von Lille zum Bahnhof geführt, um Deutschland zu bereisen. Die Liller verwechselten Niederlage und Sieg, umjubelten, beschenkten und küßten die Gefangenen, zeigten die französischen Farben und riefen: »Vive la France!« Viele, die sich beim Anblick einiger hundert Rothosen der starken deutschen Besatzung von Lille nicht mehr erinnerten, riefen auch: »À bas l'Allemagne!« Ich besorge, das wird ihnen Kosten verursachen.

      Mit eigenen Augen hab' ich diese Begriffsverwirrung der Liller nicht gesehen. Ich war am Abend des 3. März nach Süden davongefahren, über Douai gegen Bapaume. In einem fast völlig in Trümmer geschossenen Dorfe und unter einem von Granaten durchlöcherten Dache kam ein warmer, gemütlicher Abend im Kreise preußischer Offiziere. Man plauderte von der Heimat, bekam das Gefühl, daß man heimatlich beisammen wäre, und vergaß für ein paar fröhliche Stunden aller Schatten des Krieges, obwohl man immer das Gebrumm der Kanonen hörte. Nach kurzer Nachtruhe in einem Bauernstübchen, darin jede Wand und jedes Möbelstück vom Einschlag der Schrapnellkugeln getüpfelt war, ging es um sechs Uhr morgens hinaus in die graue Dämmerung, deren verziehende Nebel einen schönen Tag zu verheißen schienen.

      Zerstörung und Vernichtung zu beiden Seiten unseres Weges. Die Straße selbst ist zerrissen von Granatenlöchern. Und die Alleebäume sind zersplitterte Stümpfe. Jetzt kommt ein Dorf – nein, nur eine Sache, die so aussieht, als wär' das einmal ein schönes und reiches Dorf gewesen! Nicht die deutschen, sondern die französischen Geschütze haben diese Verwüstung angerichtet. Es steht keine ganze Mauer und kein Dach mehr. Unsere Reserven wohnen da in den Kellerlöchern; die Schuttberge, die über den Gewölben liegen, sind ihr Granatenschutz.

      Noch umhüllen die Schleier des frühen Morgens diese sprachlose Heimat des Schreckens; der Frühwind, wenn er stärker strömt, trägt aus den öden, von Steinbrocken übersäten Gärten und aus einem Gewirre zersplitterter Obstbäume den Übelduft der Verwesung her. Und manchmal sieht man hinter diesen Hecken einen formlosen Klumpen liegen, der früher einmal ein Pferd oder eine Kuh gewesen.

      Der Ausgang der Dorfstraße ist im Zickzack mit Barrikaden gesperrt, die aus Lehmsäcken, Karrenfragmenten, Eggen, Pflugscharen, Mähmaschinen, Hausgerät und Wagenrädern gebaut sind. Aus allen Mauerresten der eingestürzten Häuser lugen die Schießscharten wie starre, schwarze Augen heraus, und gleich den Werken einer im Gehirne von Wahnsinnigen entsprungenen Gartenkunst erhebt und verschlingt sich das Wirrsal der Drahthindernisse und zieht sich in unbegreiflichen Formen gegen die Felder hin. Noch hört man keinen Kanonenschuß, nur jenes schlummerlose Gewehrgeknatter, das nicht Kampf ist, sondern Wachsamkeit – es ist wie das Ticken von vielen großen Uhren; jede will ihre Pflicht tun, keine will stehen bleiben.

      Der Schützengraben, in den wir hinter einem Wall von Sandsäcken mit geduckten Köpfen hinuntersteigen – der Oberst von Z., der mich führt, und der sich bei der Eroberung dieses zum Schutthaufen gewordenen Dorfes das Eiserne Kreuz erster Klasse holte, ist so hochgewachsen, daß er jetzt zwei Stunden lang immer den Nacken beugen muß – dieser Schützengraben gleicht den anderen, die ich schon gesehen habe, und dennoch hat auch er wieder sein eigenes Gesicht. Er ist besetzt mit Feldgrauen aus der preußischen Provinz Sachsen, mit Magdeburgern und Hallensern. Das Aussehen dieser Mannschaften ist ebenso gesund und frisch, wie ich es bei den munteren Lehmfischen gefunden, von denen ich schon erzählte; und nicht minder heiter sind sie, nur ist die Art ihres heimatlichen Humors eine anders gefärbte, ist stiller, im Worte sparsamer, knapper im Ton. Auch hier die gleiche deutsche Soldatensehnsucht, dieses Leben im wässerigen Brei erträglicher zu machen, ihm ein bißchen Schönheit zu geben. Ein Unteroffizier – in seinem Zivilstand ist er Berufsjäger – hat sich mitten im Schlamm aus Backsteinen ein sauber gefügtes Hüttchen gebaut und hat es »Schloß Hubertus« getauft. Nette Kapellchen sind in die Lehmwände eingenistet, und die dem Feinde abgewendeten Ränder des Schützengrabens sind mit frischem Grün bepflanzt, mit Buchs, Efeu und Schneeglöckchen, von denen einzelne Stücke schon zu blühen beginnen. Man fühlt: dieser freundliche Schmuck der deutschen Kampfstätten wächst aus ruhigem Glauben an das Leben heraus und kommt aus unverwüstlicher Frühlingshoffnung, aus zuversichtlichem Erharren des deutschen Sieges!

      Auch hier wieder die Kontraste der pietätvoll gezierten deutschen Soldatengräber und der in Regen und Sonne verwesenden Franzosenleichen, die, unbeerdigt, von ihrer Heimat festgehalten, aber von ihrem Volk verlassen, als zermürbte Mißform zwischen den Schützengräben liegen. Ein junger Offizier, der mir von einer harten, aber siegreichen Sturmnacht berichtet, zeigt mir in einer von Streifschüssen durchfächerten Wiesenmulde viele von diesen blaubraunen, schon nimmer menschenähnlichen Klumpen, deutet auf den uns zunächst liegenden und sagt: »Als alle, die den Angriff gegen uns versuchten, schon gefallen waren, ist der noch wie ein Baum bis zuletzt gestanden. Es war ein Jammer, daß wir den braven Kerl haben totmachen müssen.« Um seiner Tapferkeit willen versuchten es die Deutschen, ihn zu begraben – die Franzosen ließen es nicht geschehen; sie schossen. –

      Der Morgenhimmel hat sich geklärt. Es ist hell geworden und die Sonne kommt. Ihre warme, goldene Riesenhand streichelt zärtlich über die kahlen Felder hin, die wie leblos erscheinen, obwohl hinter ihren Erdrunzeln der Herzschlag eines tausendfältigen Lebens hämmert – und zärtlich streichelt das wachsende Sonnenlicht die Köpfe unserer Feldgrauen bei den Schießscharten, streichelt aber auch ebenso zärtlich die nur noch schwach an Menschen erinnernden Klumpen, die unbeweglich da draußen liegen auf dem goldfarbenen Acker und die warme Liebkosung der ewigen Lebensmutter nimmer fühlen. Eine große, bewundernswerte Philosophin ist sie, in ihrem Glanz da droben! Ohne Unterschiede zu machen, sieht sie alle Dinge der Erde barmherzig und hilfreich an, Freund und Feind ist für sie nur ein einziges Wort! – Und wir Menschen? Was tun wir um einiger Buchstaben willen? –

      Immer lebhafter knallen die Gewehrschüsse über die unabsehbare Zeile der Schützengräben hin. Inmitten dieses harten Geknatters hört man von der nur hundertfünfzig Meter entfernten feindlichen Stellung ein kurzes, wirres Geschrei. Hat eine deutsche Kugel da drüben einen Stahlschild durchbohrt? Ist sie durch eine Scharte geflogen, aus der ein feindliches Auge spähte? Fiel da drüben einer? Das sind Gedanken, die nicht ausgesprochen werden. Niemand stellt eine Frage; so braucht auch keiner zu antworten. Die Schüsse knallen, immerzu, immerzu. Es scheint, als wäre das stählerne Geklapper ein bißchen schneller geworden. Nun verzögert es sich wieder. Und linde Sonnenstrahlen schmeicheln sich