„Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Großunternehmer hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die enormen Gewinne derselben, welche sie früher ausschließlich zogen, vermindern, weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen müssen. Während also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und mehr, und die Zustände beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen Wohlstandes zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswüchsen unserer Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mächte wahrer Kultur erblicken …
„Nur darauf kommen wir immer wieder zurück: daß ehe nicht die Arbeiter sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen Unternehmungen wagen und tatsächlich die Möglichkeit dartun, daß sie es allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der übrigen Klassen, durchzusetzen vermögen, man sich von seiten dieser wohl hüten wird, ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert ist, sie in der bisherigen Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fühlbaren Grade von ihnen geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie auf Beachtung ihrer Wünsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzählen, während sie ihnen bis dahin für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig für sich gar nicht in Ansatz kamen. Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche und Strebungen, mögen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, daß sie in tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen sich unabweisbar hervordrängen.” … (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.)
Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß, der im Sommer 1862 tagte, mußte Schulze eingestehen, daß noch fast gar keine Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen beständen. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine gediehen, neben ihnen, aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften.
Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848 bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und nehmen jetzt deren Faden wieder auf.
Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen Reaktion einen empfindlichen Stoß versetzt, indem er die „Solidarität der Regierungen”, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte. Die Rivalität zwischen Preußen und Österreich trat in dem verschiedenen Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland von neuem zutage, während der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres stärksten Hortes beraubte. Rußland hatte vorläufig so viel mit seinen inneren Angelegenheiten zu tun, daß es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war, sich für die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des „Prinzips” halber zu interessieren, es kam für die innere Politik der Nachbarstaaten vor der Hand außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte sich die Rivalität zwischen Preußen und Österreich auf kleinliche Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenüber blieben beide Regierungen vorderhand noch „solidarisch”.
Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine Geschäftsstockung, die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität 1850 die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. Überall gärte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, überall schöpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue Kraft, überall erhoben die „Mächte des Umsturzes” von neuem ihr Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III. mit drakonischen Gewaltmaßregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er dadurch seine Position eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern Mittel. Er versuchte durch einen populären auswärtigen Krieg sein Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen der Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer Verschwörung durch Orsini wissen lassen, daß, wenn er sein ihnen gegebenes Wort nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn erheben würden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um dieselbe Zeit nimmt in Preußen mit der Regentschaft Wilhelms I. die „Neue Ära” ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen Wunsch beherrscht, Österreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen, sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Bürgertum zu gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging auch alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun wieder Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, überbot sich der bürgerliche Liberalismus in allen möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der „Nationalverein” wurde gegründet mit dem Programm: Deutschlands Einigung unter Preußens Spitze. Preußen wurde die ehrenvolle Rolle zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Völkerfrühling schien angebrochen und ein viel schönerer als der von 1848, denn er versprach die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären Erhebung ist man nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte Masse aufzurufen, alles versprach sich hübsch parlamentarisch abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten kommen sollte – hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und Konsumvereine, der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis geliefert, welche große Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten hätten, sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts als die liberalen „Freiheiten” brauchten?
Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus jener Tage wieder nachliest, dem fällt nichts so sehr auf als die kolossale Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die über den engen Horizont des aufgeklärten Gewürzkrämers hinausgehen. Man war sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel von altathenischer Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzählen, aber die Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, daß der aufgeklärte deutsche Gewürzkrämer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, daß es zugrunde gehe. Mit dieser selbstgefälligen Naivetät trieb man es im preußischen Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den Sattel gesetzt, und mit dieser Naivetät entfremdete man sich die Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu Veranlassung gab. Man wußte erschrecklich viel Geschichte, aber man hatte „auch wirklich nichts” aus ihr gelernt.
Auf die Ursachen und den Gegenstand des preußischen Verfassungskonflikts braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der Liberalismus sah sich plötzlich, er wußte selbst nicht wie, im heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schöne Rolle der Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorläufig nur Pech, aber kein Unglück. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden, daß sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die nationale Strömung hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt; von der kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrüder abgesehen, überließen sie namentlich der inzwischen konstituierten Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preußischen Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch immer ihre Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm, in jenem Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs neue ihr Haupt erhebenden Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das Budgetrecht der Volksvertretung.
Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heißt noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch die entwickelteren Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der Statisten, die ihnen die liberalen Wortführer