Mein Leben und Streben. Karl May. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl May
Издательство: Public Domain
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Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 0
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verstand sich ganz von selbst, daß Vater dieses Buch sofort hernahm und fleißig durchstudierte. Es enthielt sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die Namen der Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch, böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was später besonders mir ganz außerordentlich vorwärts half. Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses köstlichen Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, viel mehr zu dem, was er bereits wußte. Nicht nur die Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen geprüft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen versehen, welche sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen waren. Dieses Buch wurde mir später eine Quelle der reinsten, nützlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen, daß Vater mich dabei vortrefflich unterstützte.

      Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit der xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso wie das Kräuterbuch, noch heut. Es enthält sehr viele und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das erste ist Moses und das letzte ist das Tier aus dem elften Kapitel der Offenbarung Johannis. Das Titelblatt ist nicht mehr vorhanden. Darum weiß ich nicht, wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk stammt. Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn sie uns die biblischen Geschichten erzählte. Jede dieser Erzählungen war für uns ein Hochgenuß, und damit komme ich auf den größten Vorzug, den Großmutter für uns Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu erzählen.

      Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß sie das, was sie erzählte, ganz nur für ihn allein erzählte. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer reichen Märchenwelt berichten, stets ergab sich am Schluß der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, der Sieg des Guten über das Böse und die Mahnung, daß Alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen sondern nur im höheren Leben liege. Ich bin überzeugt, daß sie das nicht bewußt und in klarer Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet. Großmutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine Märchenerzählerin, die aus der Fülle dessen, was sie erzählte, Gestalten schuf, die nicht nur im Märchen, sondern auch in Wahrheit lebten.

      In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen von Sitara, sondern das Märchen »von der verloren gegangenen und vergessenen Menschenseele« auf. Sie tat mir so unendlich leid, diese Seele. Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. Für mich enthielt diese Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen eingehend beschäftigt hatte, erkannte ich, daß die Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und daß alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns diese Kenntnis zurückzubringen. Ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene gekommen sei. Ich wollte und wollte sie finden. Da nahm Großmutter mich auf ihren Schoß, küßte mich auf die Stirn und sagte: »Sei still, mein Junge! Gräme dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!« »Wo?« fragte ich. »Hier, bei mir«, antwortete sie. »Du bist diese Seele, du!« »Aber ich bin doch nicht verloren,« warf ich ein. »Natürlich bist du verloren. Man hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan. Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen.« – Ich begriff das damals nicht; ich verstand es erst später, viel, viel später. Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. Ich sah nichts. Es gab für mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und Gegenstände wohl fühlen, hören, auch riechen; aber das genügte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch. Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper, sondern seine Seele. Nicht sein Aeußeres, sondern sein Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der Schlüssel zu meinen Büchern. Das ist die Erklärung zu allem, was man an mir lobt, und zu allem, was man an mir tadelt. Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine so tief gegründete und so mächtige Innenwelt besaß, daß sie selbst dann, als er sehend wurde, für lebenslang seine ganze Außenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die Fähigkeit, mich zu kritisieren, sonst keiner!

      Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern bei Großmutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das kam von ihr. So wurde ich ihr ganz selbstverständlich ähnlich. Was sie mir erzählte, das erzählte ich ihr wieder und fügte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet und teils erschaute. Ich erzählte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte. Ich erzählte in Großmutters Tone, mit ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete. Das klang altklug und überzeugte. Es verlieh mir den Nimbus eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. So kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich wäre vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr und klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand, einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit gegeben. Es hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als andere Kinder. Da kann es leicht klüger erscheinen, als es ist. Leider besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit der Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit der Mutter. Er sprach sehr gern und übertrieb, wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und was er sagte. So kam es, daß ich dem Schicksal, dem ich hier entging, später doch noch verfiel, dem entsetzlichen Schicksal, totgelobt zu werden.

      Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart entwickelt und in seinen späteren Grundzügen festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein um so größeres Kind, je größer ich wurde, und zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besaß und noch heute besitzt, daß keine Rücksicht auf die Außenwelt und auf das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich für seelisch richtig befunden habe. Und so lange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung gemacht, daß es dem Volke genau ebenso ergeht wie mir. Es handelt am liebsten nicht aus äußerlichen Gründen, sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus. Die größten und schönsten Taten der Nation wurden aus ihrem Innern heraus geboren. Und wäre der Geist eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch, so wird er es doch niemals fertig bringen der Geschichte eines Volkes den Stoff zu einem großen, nationalen Drama aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war. Und gründen wir hunderte von Jugendschriftenvereinen, von Jugendschriftenkommissionen und tausende von Jugend-, Schüler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in unserm Pedantismus und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch heut. Darum weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend keine Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will Wahrheit, will Natur. Er haßt die sittlichen Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität angezogen wird. Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so überaus köstlich einwandfrei handeln, daß man sie unbedingt überdrüssig wird, sondern seine größte Kunst besteht