Waldröschen III. Matavese, der Fürst des Felsens. Teil 1. Karl May. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl May
Издательство: Public Domain
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Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 0
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Odéonstraße.

      »Kennt der Alte dich?« fragte der Herr. – »Ja.« – »So magst du mit eintreten.«

      Als sie das Haus erreichten, schritten sie durch den weiten Torweg desselben nach dem Hof und gelangten dort an eine Art Kellertür, neben der ein hölzerner Klingelgriff befestigt war. Der Diener klingelte, und es dauerte eine geraume Zeit, bis geöffnet wurde. Ein altes Weib erschien.

      »Was wollt ihr?« fragte sie. – »Ist Papa Terbillon daheim?« erkundigte sich der Diener. – »Ja.« – »So laßt uns ein! Wir sind Freunde. Sagt es ihm!« – »Wartet!«

      Sie verschwand und schloß die Tür hinter sich zu, und die beiden mußten sich abermals eine längere Weile gedulden.

      Dies hatte seinen guten Grund. Papa Terbillon nämlich war nicht allein, sondern hatte Besuch. Es befand sich bei ihm ein junger, ungewöhnlich stark gebauter Mensch, in dem wir den Schmied Gerard Mason, den Bruder Annettes, wiedererkennen.

      Der alte Terbillon war ein vorn und hinten ausgewachsenes Männchen mit einem vollständig kahlen Kopf. Er trug eine große Hornbrille auf der langen Nase und steckte in einem Schlafrock, der aus Flicken und Flecken zusammengesetzt war.

      Das Zimmer, in dem die beiden saßen, war nur ein Loch zu nennen. Es enthielt einen alten Tisch, drei Stühle, ein Bänkchen, einen kleinen Windofen, einen alten Spiegel und eine Petroleumlampe, die immer brennen mußte, da der Raum kein Fenster besaß.

      Aus diesem Meublement hätte man sicher nicht auf den Stand und die Beschäftigung des Alten zu schließen vermocht, der auf dem Schemel hockte, die Arme um die emporgezogenen Knie gelegt hatte und dem zuhörte, was ihm der Schmied mitteilte.

      »Und sie rannte wirklich fort?« fragte er. – »Ja.« – »Und ins Wasser?« – »Geradewegs.« – »Welch eine Dummheit! Sie ist natürlich ertrunken?« – »Nein.« – »Nicht?« Bei Gott, was denn?« – »Sie wurde von einem Herrn gesehen; der sprang ihr nach und zog sie wieder heraus.« – »Wieder heraus? Welch eine Albernheit! Einen Menschen, der sich ersäufen will, den läßt man im Wasser; das versteht sich ja ganz von selbst. Wer war der Kerl?« – »Ich weiß es nicht.« – »Hast du ihn nicht gesehen?« – »Allerdings, sogar gesprochen habe ich ihn.« – »Und weißt nicht, wer er war! Welch eine Dummheit!« – »Ja, ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gesprochen, aber ich habe ihn nicht gefragt, wer er ist. Er hatte etwas an sich, was mir den Mut zur Frage nahm.« – »Dummheit!« – »Und zudem glaubte ich, daß Annette ihn fragen würde.« – »Und sie hat es wohl auch nicht getan? Welch eine Albernheit!«

      Der alte Terbillon schien die Worte Dummheit und Albernheit vorzugsweise gern zu gebrauchen. Sein Gesicht hatte Affenzüge, und seine ganze Gestalt zeigte etwas Meerkatzenähnliches.

      »Sie hat geglaubt, ihn öfters zu sehen, aber er ist nicht wiedergekommen«, entschuldigte sich der Schmied. »Er ist abgereist« – »So war er ein Fremder?« – »Jedenfalls. Er ging über die Brücke, als Annette ins Wasser sprang; er stürzte sich ihr nach und rettete sie, er trug sie zur Mutter Merveille, wo sie verpflegt wurde, und nun soll sie in die Familie des großen Letourbier kommen.« – »Des Professors! Wie kommt sie zu diesem?« – »Ihr Retter hat sie empfohlen.« – »Und das laßt ihr euch gefallen? Welch eine Dummheit wieder! Wißt ihr, daß sie euch eine sehr gute Revenue einbrachte? Daß ihr also gar nicht zu arbeiten brauchtet?« – »Richtig! Das ist wahr.« – »Und daß ihr nun arbeiten müßt?« – »Das wollen wir; deshalb komme ich zu dir, Papa Terbillon. Du wirst mir Arbeit geben.« – »Ich? Hm! Du hast bisher für den alten Gambreully gearbeitet?« – Ja, an der Garotte.«

      An der Garotte arbeiten heißt nämlich, einsame Spaziergänger überfallen, ihnen die Kehle zudrücken oder zuschnüren, um ihnen die Barschaft abzunehmen. Hierzu gehören sehr kräftige Leute, und gewöhnlich arbeiten zwei miteinander. Diese Arbeit wird förmlich geschäftsmäßig betrieben. Es gibt wirkliche Entrepreneurs – Unternehmer —, die fünfzig und mehr Arbeiter in verschiedenen Fächern beschäftigen.

      »Was hast du dir verdient?« – »Verdammt wenig. Sechs Franken pro Tag.« – »Hm, ich würde dir acht Franken geben, denn du bist ein kräftiger Bursche. Wie oft bist du bereits gefangen gewesen?« – »Erst fünfmal.« – »Und dein Vater?« – »Zwölfmal.« – »Welche Dummheit! Zwölfmal! Du scheinst klüger zu sein als dein Alter. Willst du für acht Franken arbeiten, so schlage ein.« – »Ich möchte doch nicht bei der Garotte stehenbleiben, vielmehr avancieren. Was gibst du einem guten Einbrecher?« – »Das ist verschieden. Bis hundert Franken pro Tag, nämlich pro Arbeitstag!« – »Ach so, hast du schon genug Kräfte?« – »So ziemlich, obgleich ein tüchtiger Kerl allezeit zu gebrauchen ist. Laß dir also etwas sagen. Ich werde dich einmal auf Probe nehmen, zunächst für zehn Franken an die Garotte. Ist‘s dir recht?« – »Gut, ich tue mit, habe aber kein Geld.« – »So beginnen wir gleich heute. Ich werde dir den heutigen Tag bezahlen.«

      Terbillon griff in die Seitentasche seines alten Schlafrocks und zog einen ledernen Beutel heraus; diesem entnahm er ein goldenes Zwanzigfrankenstück und gab es dem Schmied.

      »Hier hast du deinen ersten Tagelohn. Bin ich mit dir zufrieden, so gehst du bald zu den Einbrechern über. Aber, du kennst unsere Gesetze und weißt, daß für den Lohn, den ich dir zahle, alles mir gehört, was du erbeutest.« – »Ja, dies ist mir vollständig bekannt.« – »Denke daran, daß man seine Arbeiter zu kontrollieren versteht! Es hat mich schon mancher betrügen wollen, für kurze Zeit ist ihm dies gelungen, dann aber …« – »Nun, dann?« – »Dann sind sie zur Strafe stets in das Zuchthaus gewandert. Ich bezahle meine Leute gut, sind sie aber unehrlich gegen mich, so weiß ich ihnen stets die Polizei auf den Hals zu schicken. Aber da fällt mir ein, du hast einen Spitznamen?« – »Ja.« – »Man nennt dich Gerard l‘Allemand, ›den Deutschen‹. Warum?« – »Weil ich deutsch spreche und verstehe.« – »Wo hast du es gelernt?« – »Von meiner Mutter, sie war eine Deutsche. Und vor drei Jahren habe ich das ganze Elsaß und Baden durchwandert.« – »Das ist mir lieb; du wirst gut zu gebrauchen sein.«

      In diesem Augenblick ertönte eine Klingel, und einige Zeit später trat die Alte ein.

      »Was gibt es?« fragte Papa Terbillon. – »Es sind zwei Männer draußen. Sie seien Freunde, sagte der eine; ich kenne sie aber nicht.« – »Ich werde sie mir ansehen.«

      Terbillon erhob sich und verließ den Raum. Draußen gab es vor der Kellertür einige finstere Stufen, die er emporstieg. In der Tür waren einige feine Löcher eingebohrt, durch die man blicken konnte, und so sah sich der Alte die beiden Kommenden an, kehrte dann in seine Wohnung zurück und sagte zu dem Schmied:

      »Vielleicht gibt es sogleich Arbeit für dich.« – »Ah, das sollte mich freuen!« – »Ja. Den einen kenne ich; er ist ein Diener, der mir bereits manchen Herrn gebracht hat. Der andere scheint sein gegenwärtiger Herr zu sein, ein feiner Mann mit Ringen unter dem Handschuh und einer Fünfhundertfrankenkette an der Uhr.« – »Donnerwetter!«

      Der Alte zeigte auf eine niedrige Tür, die neben dem Ofen angebracht war.

      »Gehe hier hinaus. Du kannst dir ihn durch das Glasfenster betrachten. Das übrige wird sich dann später finden.«

      Gerard verschwand hinter der Tür. Er befand sich jetzt in einer Art von Kammer, die allerlei Raub zu enthalten schien. Es war vollständig dunkel in ihr, aber er fühlte verschiedene Gegenstände, darunter auch einen Sack, der mit weichen Stoffen gefüllt war und gerade hinter der Tür lag, so daß er sich auf ihn setzen und dabei ganz bequem durch das Fensterchen in die Stube blicken konnte.

      Eben jetzt traten die beiden Fremden ein.

      »Guten Tag, Papa Terbillon!« grüßte der Diener den Alten. – »Guten Tag«, dankte dieser mürrisch, ohne sich von seinem Sitz, auf dem er wieder Platz genommen hatte, zu erheben. – »Nun, stehe auf, Papa Terbillon, wenn feine Leute zu dir kommen!« mahnte der Diener. – »Das tue ich, wie ich will. Es sagt mancher hier, er sei fein, und wenn man ihm gefällig ist, erfährt man das Gegenteil.« – »Aber hier wirst du es nicht erfahren. Dieser Herr ist ein Edelmann.«

      Der Alte machte ein sehr verwundertes Gesicht und fragte:

      »Woher?«