Achtes Kapitel. Wie ein alter Freund dem armen Weberknechtlein einen Ausweg zeigt
So waren zwei Jahre vorbeigeschlichen, seit ich am Huldigungstage meine 12½ Batzen verthan, einen besudelten Kopf, versudelte Kleider und ein ödes Herz heimgebracht hatte. Der Sommer war heraufgezogen und brannte heiß auf die Erde. Ein Sonntag stund im Kalender. Der Vater war am Morgen früh um eine Kuh ausgegangen, da die unsrige übergänt geworden war. In den Webkeller hatte ich eigentlich gehen sollen, aber es widerte mir davor. Der Mutter gehorchte ich nicht, und der Vater konnte mich nicht hineinjagen, weil er fort war. Da wandelte mich auf einmal das Gelüsten an, wieder zur Kirche zu gehen, was lange, lange nicht geschehen war. Denn weben ging dem Vater vor beten, besonders wenn ein anderer weben mußte.
Ich suchte also meinen Sonntagsstaat zusammen, streckte die lang gewordenen Glieder durch die gleich gebliebenen Kleider, weit hinaus in die freie Luft, und wanderte getrost trotz dem Schelten der Mutter und ihren Drohungen: sie werde es dem Vater sagen — der Kirche zu. Es that mir so wohl, zu Leuten zu können auch ohne Geld.
Auch das Sein in der Kirche erquickte mich. Die Orgel klang mir so voll und schön ins Herz hinein, das Gebet that mir so wohl, und während der Predigt vergaß ich mich selbst und erbaute mich gar inniglich an kräftigen Worten von Gottes Macht und Herrlichkeit; ich glaubte mich in einer andern Welt. Aber als die Orgel zum letztenmal erklang und ihre Töne majestätisch verrauschten, als die Thüren aufgingen und ich wieder aus der Kirche sollte, wo mir so wohl gewesen, heim in die Welt, wo mir so übel war, da ward mir weh ums Herz. Und weinen hätte ich mögen, als ich über die Schwelle schritt und denken mußte: wie manche lange Woche, wie manchen langen Monat geht es wohl, bis ich wieder hin kann aus dem Sündenhaus in das Gotteshaus? Wie ich so trübselig über den Kirchhof schritt, da griff mich mein alter Schulmeister auf, den ich lange nicht gesehen und jetzt in meiner Traurigkeit übersehen hätte. Er klagte, daß ich ihn ganz vergesse, aber er könne mich nicht vergessen, einen solchen kriege er nicht mehr in die Schule. Er fragte, warum ich nie zu ihm komme und was mir fehle, daß ich ein Gesicht mache, als ob ich eine Essigguttere verschluckt hätte. Da ich unter den Leuten nicht recht zu Worten kommen konnte, so zog er mich beim Ärmel seinem Hause zu und sagte: Er hätte noch neuis daheim, einen Schluck davon werde mir nicht schaden, und da könne ich ihm dann sagen, wie es mir gehe; er sehe wohl, es sei nicht alles, wie es sein sollte, und andern könne er besser raten, als ihm selbsten, das hätten andere und er schon oft erfahren; vielleicht erfahre ich es jetzt auch.
Bei einem Gläschen Branntwein floß es mir nun besser vom Munde.
Ich erzählte meine Not. Wie hart mich die Eltern hielten, ohne Geld ließen, kaum Kleider mir gönnten. Da fluchte mein Schulmeister und wußte von meinen Eltern allerlei Unrepetierliches zu erzählen. Ich solle machen, daß ich von ihnen fortkomme und zu mir selbsten sehen: zu weben finde ich an allen Orten, und zu einem Bauern gehen könne ich ja auch im Notfalle. Nun beichtete ich, daß das Weben mir gar grusam erleidet sei und daß ich zu einem Bauren auch nicht möge, indem ich fast keinen Lohn erhalten würde, da ich nicht säen, nicht melken, nicht füttern könne, und mein Lebtag kein Roß in den Händen gehabt habe. Da schaute mein Schulmeister bedenklich drein und schenkte sich ein frisches Gläschen ein. Auf einmal schlug er auf den Tisch und rief: »Peterli, du muesch Schulmeister werde!« Und stille ward‘s wieder. Er schwieg; ich war verstunet, und mit großen Augen sahen wir über den Tisch einander ins Gesicht, er vor Bewunderung, ich vor Verwunderung. »Gell Peterli, i ha dr‘s gseit, i ha scho Mengem grate, u es isch guet cho, u mi het‘s nit hinger mr gsuecht.« Aber er konnte noch lange reden, bis er mich auch zum reden brachte, so verblüfft war ich. Als ich zu mir selbst kam vor dem unerwarteten Gedanken, wandte ich manches ein gegen den Vorschlag: meine Ungeschicklichkeit, daß ich schon vieles vergessen, daß der Vater mich nicht fortließe u.s.w. Aber wie alle Einwendungen, bei denen es einem nur halber Ernst ist, waren auch diese bald widerlegt. Er sei nicht von den Ungeschicktesten einer, sagte er, und ich sei fast so geschickt wie er. Den Vater frage man nicht lange. Wolle er mich nicht gehen lassen, so laufe ich fort. Aber wo ich wohl einen Platz finden könnte, fragte ich endlich. »Da lah mi nume mache, i weiß dr scho halb u halb eine«, sagte er mir, trank sein Gläschen aus und ging. Denn seine Alte hatte ihm schon zweimal gerufen zum Essen, und mit dieser durfte er nicht spassen.
Neuntes Kapitel. Wie es mir im Kopfe rundum und endlich mit mir ins Schulmeisteramt geht
So machen es die Leute; sie setzen einem eine Floh hinters Ohr und, statt sie jagen zu helfen, jagen sie einen fort und man mag zusehen, wie man mit derselben zurecht kömmt. Es ist recht seltsam, wie ein in besonderer Stunde angeworfener Gedanke haften bleibt, sich einbohrt in unsern Kopf hinein, alles Vorhandene auf die Seite wirft, unsere gesamte Einbildungskraft überschwemmt und als ausgebrochener Strom sich nun ergießt in das weite Feld unserer Zukunft hinaus. Es gibt nun Leute, oder vielmehr Köpfe, die diesen Überschwemmungen gar häufig ausgesetzt sind. Alle Augenblicke ergießt sich in ihnen die Flut von Anschlägen und Vorschlägen; aber diese Überschwemmungen haben meist die Art, wie die der Emme: ihr Niederschlag besteht aus Sand und Steinen, und das Feld, über welches sie sich ergossen, bleibt unfruchtbar auf lange, und für immer, wenn sie sich zu häufig wiederholen.
Es gibt aber auch Überschwemmungen anderer Art. Diese wiederholen sich seltener; sie ergießen sich auch über das leere Feld der Zukunft; aber sie hinterlassen einen fruchtbaren Niederschlag, wie der Nil im Egypterland; in diesem wächst lustig eine lustige Ernte, und nicht wieder kommen sie, bis diese Ernte eingesammelt und des Feldes Schooß zu neuer Empfängnis offen liegt. Der Kopf, in dem gar keine solchen Überschwemmungen stattfinden, der ist ein trockner Kopf, der wird sich in Schlafrock und Pantoffeln wohl sein lassen, wenn er es vermag. Er wird in aller Behaglichkeit den Batzen zu dem Batzen legen — 107 —
oder den Schoppen zu dem Schoppen schütten; und wenn er es nicht vermag, so wird er entweder arbeiten, was man ihn heißt und was er muß, oder er wird mit Bequemlichkeit den Bettelsack tragen von Haus zu Haus. Die Welt wird ihm weder eine That noch einen Gedanken zu verdanken haben. Auf sein Grab wird man schreiben müssen: »In diesem Grabe liegt ein Leib begraben, in dem Leib war eine Seele begraben; des Leibes Leben kannten wir; was die Seele that, wissen wir nicht«.
Unter den überschwemmenden Köpfen gibt es welche, wo in der unsichtbaren Seele geheimnisvollem Schooß eine göttliche Kraft haust und schafft. Diese zeuget in dem nie erblickten tiefsten Grunde der Seele den lebendigen Gedanken; diese nährt ihn, bis er mächtig die Seele füllt; sie sprengt ihm Schloß und Riegel, strömt ihn befruchtend aus in die Welt, schafft und besorgt die Ernte. Das sind die selbständigen Geister. In ihnen allein wohnt ungeschwächt und ungeteilt die Urkraft, die zeuget und gebiert ohne fremde Hülfe; sie sind selten, diese Geister auf der erkaltenden Erde.
Aber andere Köpfe gibt es in größerer Menge; die Väter mangeln zu ihren Gedanken, zu ihren Anschlägen und Vorschlägen, und diese Väter finden sich wohl auch vielfältig und in vielerlei Gestalten. Alte Schulmeister und junge Mädchen vermögen beide den Dienst zu thun. Wenn dann der Gedanke in der Seele schwillt, so pocht er an allen Wänden dieser Köpfe an. Doch umsonst, da ist keine Kraft in ihnen, den Durchbruch zu vollbringen. Wie diese Köpfe fremde Väter bedurften, so bedürfen sie auch zur Entbindung Hebammen, die den Gedanken ans Tageslicht fördern, ihn einwickeln in die nötigen Windeln, ihn hegen und pflegen an That oder Wort. Da finden sich dann oft Vater und Hebamme in einer Person. Gerade einen Kopf auf die letzte Manier hatte ich. Der Schulmeister hatte in mir einen Gedanken gezeuget, der wurde nun nach und nach lebendig in mir. Anfangs konnte ich ihn nicht erkennen; es war etwas neues in mir, aber ich wußte eigentlich nicht was. Ich war sturm; rundum ging es mit mir; bald hätte ich den mir so wohl bekannten Heimweg verfehlt. Das Branzen der Mutter über mein spätes Heimkommen hörte ich nicht; daß sie geschwind Teller heraustrugen und also Fleisch gehabt (denn wenn man kein Fleisch hat, braucht man keine Teller), sah ich nicht; daß ich kein Fleisch erhielt und nur kalte dürre Bohnen, so breit und dick wie ein Schmiedsdaumen und mit Fäden so grob wie Zwick, merkte ich nicht, sondern kaute tapfer darauf los und schluckte aus Leibeskräften hinunter, was sich nicht kauen ließ. Bald darauf kam der Vater heim. Dem wurde ich verklagt. Der hunzte mich tüchtig aus und jagte mich in den Webkeller.