Wir waren nahe daran, wieder umzukehren, als Eva auf ein winziges Hügelchen aufmerksam machte, der einzigen Erhebung in der sonst mit einem Blick umspannbaren Ebene. Als wir es umgingen, gelangten wir auf der Nordseite an ein menschliches Bauwerk. Ein Mittelding zwischen Häuschen und Hütte, äußerlich sauber gehalten, dabei eine Gemüsepflanzung, vor ihr eine Holzbank. Aus der Tür trat ein Mann in mittleren Jahren, mit gewissen Zeichen der Intelligenz im bebrillten, bärtigen Gesicht, in einem Anzug von klimawidriger, unfroher Dunkelheit. Er stützte sich mühsam auf einen kurzen Stock und sandte uns mit der freien Hand einen kurzen, stummen Gruß entgegen, ohne indes das mindeste Erstaunen über unsern Besuch zu verraten.
Donath nahm als erster das Wort und versuchte es in mehreren Unterarten des Polynesischen. Der Hüttenbewohner hörte aufmerksam zu und schien zu verstehen. Allein er traf nicht die leisesten Anstalten, um uns mit einer Antwort zu bedienen. In unseren wechselseitig ausgetauschten Blicken lag die Frage, sollte er stumm sein? Aber dann hätte er doch wenigstens mit Zeichen reagiert. Nichts von alledem: er wollte nicht antworten.
Aber er legte auch unsrer Besichtigung seines Anwesens nichts in den Weg. Er duldete es wortlos, das wir das Häuschen betraten, dessen primitive Einrichtung der Behaglichkeit nicht ganz entbehrte. Es waren sogar einige Bücher vorhanden über Botanik und Zoologie, in englischer und spanischer Sprache, mit Zwischenblättern, die Übersetzungen ins Polynesische enthielten, dies Wort im weitesten Sinne genommen.
Wir verabschiedeten uns nach einiger Zeit und stellten baldiges Wiedersehen in Aussicht. Er wehrte nicht ab. An Bord ergingen wir uns in Mutmaßungen. Nach unseren Eindrücken gehörten die Insel sowie der Mann nicht mehr zum Begriff Hawai, wohin sie auch in geographischem Betracht nicht unterzubringen waren. Eher war anzunehmen, daß dieses Eiland den äußersten Vorposten der unentdeckten Gebiete vorstellte. Den Mann klassifizierten wir einstweilen als Einsiedler, den irgend ein Verhängnis von seinen Volksgenossen fortgetrieben haben mochte. Wir wollten versuchen, ihm die Zunge zu lösen und zwar zunächst dadurch, daß wir ihm aus unseren reichen Vorräten einige Gaben mitbrachten: Gebrauchsgegenstände für Haus und Körperpflege, kleines Handwerksgerät und ein paar Flaschen Burgunder.
Als wir am nächsten Tage unsere Spenden auspackten, und ihm zuwiesen, glitt ein freundlicher Anflug über seine Züge. Er nahm an, ohne merklich zu danken. Als er die Gegenstände ergriff, bemerkten wir an seinen Händen Handschuhe aus festem, gummiartigem Stoff, und ein leiser Karbolgeruch kam uns entgegen. Doktor Melchior Wehner, der beim ersten Besuch nicht mitgekommen war – da ihn die Verletzung eines Matrosen auf der »Atalanta« zurückgehalten hatte – und der sonach den Einsiedler zum erstenmal jetzt erblickte, trat auf ihn zu, maß ihn mit eindringenden, diagnostizierenden Blicken, drehte sich dann zu uns und sagte mit sicherem Tonfall: »Der Mann hat die Lepra.«
Der Einsiedler wiederholte mit schmerzlichem Ausdruck: »Lepra!« Das war das erste Wort, das wir von ihm vernahmen. Die Sprache war ihm also nicht versagt, aber es war ein fürchterlicher Anfang für eine Konversation.
Der Arzt, der vordem an unseren Sprachstudien nur unzureichenden Anteil genommen hatte, verfiel auf einen Ausweg, um sich mit dem Mann zu verständigen: Wenn einer Bücher besitzt, so ist ihm vielleicht mit dem klassischen Esperanto des Lateinischen beizukommen. Und er sprach zu ihm, wenn auch nicht klassisch, so doch in brauchbarem Fast-Latein:
»Sine dubio Lepra! Sed non omnino casus desperatus, non incurabilis. Est Lepra in primo stadio. Ego sum medicus, velim audere sanationem tuam. Intelligisne verba mea?«
»Intelligo!« sagte der Kranke; und in der Sprache seines Landes, die Donath und Eva, in bescheidenerem Grade auch mir leidlich verständlich klang, fuhr er fort:
»Ich wußte es schon. Und ich selbst habe mich als Aussätziger aus meiner Heimat verbannt, um hier in Einsamkeit mein Ende zu erwarten. Die Ärzte meines Landes sagen: es gibt bei Lepra nur periculum contagionis, aber es gibt keine Heilung.«
Der Arzt bemächtigte sich der Leitung, soweit sie das nächstliegende betraf. Vor allem mußte ein Pestkordon um den Kranken gezogen werden, Wehner drang auf unsere rasche Entfernung und bewirkte sie trotz Evas Einspruch, die als Krankenschwester in Funktion treten wollte. Auf der Bootfahrt entwickelte er uns, daß die Therapie neuerdings ein Mittel besäße, um die primäre, rechtzeitig erkannte Lepra wirksam zu bekämpfen: die Einspritzung von Tuberkulin; er selbst habe bei zwei Fällen in Masuren damit raschen Erfolg erzielt. Als er auf dem Schiff das Erforderliche vorbereitet hatte – hierzu gehörte ein Desinfektionsapparat, der mit Sublimat- und Formalinwolken das ganze Häuschen durchräuchern sollte – kehrte er zur Öd-Insel zurück, nur von einigen Matrosen begleitet, die im Boot verbleiben mußten. Der Kranke setzte zuerst den Injektionen Widerstand entgegen, er fügte sich aber bald und bot schon nach wenigen Tagen das klinische Musterbild rapider Besserung. Die grindigen Flecke verschorften sich zusehends, blätterten ab, die Haut regenerierte sich, und nach einer Woche konnte die Sperre aufgehoben werden. Wir hatten einen Rekonvaleszenten vor uns, dem ersichtlich daran gelegen war, Wohltat mit Dank zu vergelten. Und in Folge dieser Wandlung gab er uns Auskunft über die Hauptfragen, die im Sinne unserer Expedition zu erörtern waren. Hier erschloß sich, in theoretischen Anfängen, das geahnte Neuland.
Der Einsiedler, mit Namen Toraspasch, entstammte der Insel Karawuddi, wo er vordem als Naturwissenschaftler und Schulvorsteher gelebt hatte. Was wir durch ihn erfuhren, sei hier in kurzen Zügen zusammengestellt:
Daß die ganze Inselgruppe der Welt bislang verborgen blieb, das verdankt sie ihrer sporadischen Anlage im Nord und Nordost der Tuscaroratiefe und ihrer relativen Kleinheit. Alles in allem sind es etwa ein Viertelhundert Eilande, deren Gesamtfläche tausend Quadratmeilen nicht übersteigt, und die somit im Verhältnis zu der unabsehbaren ozeanischen Umspülung fast völlig verschwinden. Sie bilden einen Kosmos für sich mit dem Hauptkennzeichen: die Außenwelt weiß nichts von ihnen – aber sie kennen die Außenwelt!
Sehr verschieden in ihren Eigenkulturen und eifersüchtig auf die Pflege ihrer Besonderheiten bedacht, fühlen sie sich doch zusammengehörig durch Sprache und den gemeinsamen Willen, ihre Selbständigkeit aufrecht zu erhalten. Aber sie haben seit Urzeiten ihre Sendboten in die Welt hinausgeschickt, deren Aufgabe darin bestand: Nichts zu verraten und Alles zu erfahren; Nichts hinauszutragen und Alles hereinzubringen, was mit Wissenschaft und Bildung, mit Geistigkeit und Technik zusammenhängt. List, Verkleidung und Verhandlungsschlauheit halfen mit, um dies Programm seit Jahrhunderten durchzusetzen. Das einzige, dessen sich die Emissäre draußen entäußern durften, waren Edelmetalle, die in den heimatlichen Erdgründen und Wasserläufen gefunden werden. Diese Tauschmittel reichten aus, um als Gegenwert hauptsächlich Bücherschätze aus Europa zu erlangen. Diese bilden den Grundstock der insularen Sonderkulturen. »Wir« – so sagte der Einsiedler – »sind in keinem Betracht der Technik hinter der europäischen zurück; dagegen haben wir sie in wesentlichen Zügen durch unsere anschließenden Erfindungen erweitert und vervollkommnet. Nicht wenige unserer Insulaner können es in Sach-, Begriffs- und Sprachkunde mit den berühmten Professoren Ihrer Hochschulen aufnehmen. In der Hauptstadt der Insel Saragalla befindet sich eine Bibliothek von neunzigtausend Bänden, die zum größten Teil von unseren Gelehrten verfaßt, in unseren eigenen Druckereien hergestellt worden sind. Aber Sie können auch den Almagest des Ptolemäus, den Aristoteles, die Werke der Scholastik und die Enzyklopädisten darin finden, bis zu den letzten Ausläufern der neuzeitlichen Wissenschaft.
Aber strenge Abschließung blieb das Hauptprinzip. Wir hatten genug von den Segnungen erfahren, die sich für Euresgleichen unter den Deckworten der Mission, der Kolonisierung, der Erschließung ferner Länder verbirgt, und wir trugen kein Verlangen, an diesen Segnungen teilzunehmen. Neuerdings haben sich unsere Ansichten hierüber ein wenig verändert. Es wurde uns bekannt, daß Ihr ein neues Schlagwort aufgebracht habt, die »Selbstbestimmung der Völker«, und wir dachten deshalb daran, unser Incognito zu lüften. Darüber wogte bis vor wenigen Jahren der Meinungsstreit. Es wäre nunmehr gefahrlos, sich zu offenbaren,