Gertie sah das alles ein, den Mangel an Langeweile und auch die Gefahr für die Kinder, und ging auf ein anderes Thema über.
Bob und Gertie standen aber bald auf, um nun doch ein wenig Diabolo zu spielen. Sie verließen die schattige Allee und begaben sich nach dem großen, freien Spielplatz in der Mitte des Parkes, der mit feinem, weißem Sand bestreut und ringsum von Bänken umgeben war. Da tollte die Jugend des ganzen Villenvororts herum, saßen die Kinderfrauen und Ammen mit ihren Babies, strickten und stickten Mütter, um von Zeit zu Zeit aufzublicken und warnend zu rufen: »Erhitz‘ dich doch nicht so, Elsie!« Da wurden zwischen Knaben Schlachten ausgekämpft, kicherten Backfische mit langen Zöpfen, wenn hinter ihnen Gymnasiasten aus den oberen Klassen einhergingen und es an anzüglichen Bewerbungen nicht fehlen ließen; zwischendurch flogen die Gummibälle und Diabolos hoch in die blaue, von der Sonne durchflimmerte Luft.
Auch Gertie und Bob schleuderten ihre Spulen himmelaufwärts, und bald hatte sich um sie ein Kreis von bewundernden Zuschauern gebildet. Die Kinder wetteiferten an Anmut und Geschicklichkeit miteinander. Flog Gerties Spule so hoch empor, daß sie nur mehr wie ein Punkt aussah, so schleuderte Bob die seine noch um ein gutes Stück höher, um gleich darauf wieder von seiner kleinen Freundin übertroffen zu werden, Und es war ein reines, ungemischtes Vergnügen, zu sehen, wie sich die schlanken Körper der beiden hoben und senkten, drehten und beugten, wie ihnen die Locken um die im Eifer des Spieles erglühenden Wangen flogen und wie sie neidlos einander lobten und ermunterten. Auch der außerordentlich gefürchtete einbeinige Parkwächter in seiner verschlissenen Veteranenuniform konnte sich von dem Anblick nicht trennen, so daß hinter seinem Rücken ungezogene Rangen in aller Seelenruhe die Blumenbeete plündern konnten. Und als er schmunzelnd erklärte: »Das ist das hübscheste Pärchen, das ich seit vierzig Jahren in dem Park gesehen habe«, da nickte man ihm von allen Seiten beistimmend zu.
III. Kapitel. Bob wird abberufen
Inzwischen war es zwölf Uhr geworden, und Bob mahnte: »Gertie, jetzt hören wir auf und kühlen uns langsam ab, damit du dich im Schatten nicht erkältest. Um ein Uhr müssen wir ja beide zu Hause sein.«
Jetzt erst bemerkten sie, daß sie eine große Zuschauermenge gehabt hatten, und ein wenig verlegen beeilten sie sich, wieder Hand in Hand davonzuschlendern. Unter den Zuschauenden befand sich aber auch ein großer Mann, dessen Häßlichkeit erschreckend wirkte. Er schien ein Negermischling zu sein, sein blatternzerfressenes Gesicht hatte eine Färbung, bei der man nicht wußte, ob sie gelb oder blau sei, und die eine Augenhöhle war leer und das andere Auge blutunterlaufen, tückisch und stechend. Er stand, als die Kinder gingen, dicht vor ihnen, und Gertie erschrak so, daß sie unwillkürlich Bobs Hand krampfhaft umklammerte. Auch Bob durchfuhr ein Grauen, aber er faßte sich rasch und sagte, während er Gertie eilig fortzog:
»Brrr, wie greulich der Mann aussieht! Der Arme! Sicher ist niemand gut und lieb zu ihm! Welches Glück ist es doch, zu wissen, daß man den Leuten gefällt!«
»Gefalle ich dir auch?« fragte Gertie mit dem schelmischen Lächeln des kleinen Weibchens, in dem die Koketterie mit den ersten Gehversuchen erwacht und mit dem letzten Zahne noch lange nicht erlöscht.
»Sehr gefällst du mir, Gertie! Würdest du mir nicht so gefallen, so hätte ich dich wahrscheinlich gar nicht lieb. Ich weiß, das ist sehr häßlich von mir und vielleicht sogar eine Sünde. Aber so bin ich nun einmal, und Papa meint immer, man solle getrost seine Eigenart bewahren. Sicher hab‘ ich dich auch lieb, weil du gut bist und mich lieb hast. Aber hättest du solche Blatternarben wie dieser Mann, so würde ich dich doch nicht so lieb haben können und lieber mit anderen Jungens spielen als mit dir.«
Da lachte Gertie hellauf und war sehr glücklich, ein hübsches, kleines Mädel mit samtweicher Haut und blonden Locken zu sein.
Die Kinder waren, um sich abzukühlen, langsam auf und ab gegangen, dann setzten sie sich auf eine Bank im Schatten und plauderten behaglich weiter. Aber nicht lange, denn plötzlich erschien der alte Diener Eduard des Holgermanschen Hauses.
»Junger Herr, ich suche Sie schon im ganzen Park. Der Herr Professor Brummel hat telephonisch nach dem jungen Herrn gefragt und gebeten, Sie möchten ihn so rasch als möglich anrufen.«
Verdutzt sprang Bob auf.
»Was mag er nur wollen? Na, er hat sich ja in der letzten Zeit immer von mir die Hefte nach Hause tragen und von Hause holen lassen, wahrscheinlich will er wieder so etwas. Aber heute, wo die Ferien begonnen haben? Komm‘, Gertie wir gehen jedenfalls.«
Gertie kicherte.
»Vielleicht will er dir sagen, daß er sich geirrt hat und du gar kein Vorzugsschüler bist.«
Bob lachte. »Quatsch! So etwas gibt es nicht! Es war doch vorher Konferenz und da wurde das alles ausgemacht.«
Der alte Eduard war vorausgeeilt. Als die Kinder die Villa Holgerman erreicht hatten, zögerte Bob noch einen Augenblick. »Weißt du, Gertie, warte hier unten auf mich, ich bin gleich wieder bei dir. Wenn du jetzt mitkommst, so hält uns Mama fest, und wir wollen doch noch ein wenig allein miteinander plaudern.«
Bob sprang wieder die Treppen hinauf und eilte in das Zimmer, in dem der Telephonapparat stand. Dieses Zimmer ging wohl auf die Straße, aber das Telephon stand auf einem Schreibtisch an der dem Fenster gegenüberliegenden Seite so daß man, wenn man sprach, nicht hinaussehen konnte. Bob rief das Amt an und gab ihm die ihm wohlbekannte Nummer des Professor Brummel. Es dauerte ziemlich lange, bis sich jemand dort meldete. Gerade als endlich Professor Brummel selbst auf der anderen Seite sein »Hallo, wer dort?« rief, hörte Bob, wie auf der Straße ein Automobil langsam vorbeifuhr und gleich darauf war es ihm, als hörte er einen Schrei. Einen schrillen, ängstlichen Schrei. Im Bruchteil einer Sekunde ging es dem Knaben durch den Kopf, daß Gertie den Schrei ausgestoßen haben könnte. Aber Professor Brummel sagte eben:
»Na, Holgerman, womit kann ich dir dienen?« Und Bob dachte vor lauter Verwunderung nicht mehr an den Ruf von der Straße.
»Herr Professor haben mich doch vorher sprechen wollen und mir sagen lassen, ich möchte sie anklingeln. – Wie, dies ist Ihnen gar nicht eingefallen? Nein, so etwas! – Ja, Sie haben recht, Herr Professor, sicher ein dummer Streich von einem Buben. Also verzeihen Sie, daß ich Sie gestört habe. – Nein, jetzt fahren wir noch nicht aufs Land, erst in vier Wochen. Papa kann noch nicht fort und Mama will ihn nicht allein lassen. – Ich danke, Herr Professor, ich werde es ausrichten. –
Zu dumm«, brummte Bob in sich hinein, als er die Treppe hinabeilte. »Fällt so einem Burschen nichts anderes ein, als den alten Brummel zu ärgern. Gertie wird aber lachen, wenn ich es ihr sage.«
Frau Holgerman kam ihm auf der Treppe entgegen.
»Bobbie, willst du nicht lieber schon zu Hause bleiben? Es ist ja halb ein Uhr!«
»Mama, Gertie wartet unten auf mich, wenn es dir aber lieb ist, so ruf ich sie herein.«
»Tue das, Bobbie, du weißt doch, ich freue mich immer, wenn Gertie bei uns ist. Vielleicht erlaubt ihr die Mama, daß sie bei uns zu Tisch bleibt.«
»Hurra, fein!« schrie Bob, ich werde Frau Sehring die Erlaubnis schon abbetteln.« Und draußen war er.
Gertie war aber nicht unten. Bob schaute die Straße entlang, nach rechts und nach links, von Gertie keine Spur.
IV. Kapitel. Gertie ist nicht zu Hause
»Kleine Mädchen sind ungeduldig und wollen nicht warten,« murmelte Bob in sich hinein. »Wenn ich erst einmal mit Gertie verheiratet