Vor Inkrafttreten des Reichspreßgesetzes gab es mehrfach sogenannte Sitzredakteure. Die von dem verstorbenen »roten Krämer« Anfang der 1870er Jahre redigierte »Deutsche Freie Zeitung« setzte dem Unfug geradezu die Krone auf. An der Spitze dieser Zeitung stand: Verantwortlicher Redakteur J.C. Fraas, Dienstmann Nr. 107. Das deutsche Reichspreßgesetz gestattet bekanntlich keine Sitzredakteure.1) Jedenfalls ist nicht zu verkennen, daß die Presse eine geradezu unheimliche Macht besitzt. Um so mehr ist es Pflicht aller anständigen Journalisten, darauf Bedacht zu nehmen, daß mit dieser Macht nicht Mißbrauch getrieben und daß etwaigen Schmarotzern ihr schmutziges Handwerk gelegt wird. Vor einigen Jahren ist es leider zwei Preßbanditen gelungen, den Kommerzienrat Israel, aus Anlaß einer von ihm begangenen sittlichen Verfehlung, zum Selbstmord zu treiben. Zweifellos war Gelderpressung die Triebfeder dieses Schurkenstreichs. Sehr im argen liegt noch die lokale Gerichtsberichterstattung. Der Schweigegelderunfug steht noch immer in Blüte. Andererseits ist zu tadeln, daß Gerichts- und Polizeiberichterstatter oftmals ganz unnötigerweise anständige Leute an den Pranger stellen und dadurch den Ruf und die Existenz ganzer Familien aufs ärgste schädigen. In den letzten Jahren haben mehrere Erpressungsprozesse gegen Journalisten stattgefunden. Ich erinnere nur an den Prozeß Dahsel, der mit der Verurteilung des Angeklagten zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis endete. Den Prozeß Bruhn will ich nicht berühren, da die Angeklagten in diesem Prozeß sämtlich freigesprochen wurden und der Vorsitzende des Gerichtshofs, Landgerichtsrat Lampe, in der Urteilsbegründung ausdrücklich hervorhob: »Der Gerichtshof hat die Überzeugung gewonnen, daß dem Angeklagten Bruhn kein moralischer Makel anhaftet.« Der in diesem Prozeß amtierende Vertreter der Anklage, Staatsanwaltschaftsrat Dr. Leyseringk, hat diese Ansicht nicht geteilt. Jedenfalls reichen alle diese Prozesse nicht im entferntesten an die Bedeutung des Prozesses gegen die Redakteure des »Unabhängigen« heran, der im Juni 1883 die erste Strafkammer des Landgerichts Berlin I beschäftigte. Im Jahre 1874, nachdem weder Kaution noch Stempelsteuer mehr zu zahlen war, gründete der vor einigen Jahren verstorbene Journalist Heinrich Joachim Gehlsen die »Eisenbahnzeitung«. In dieser wurden sogenannte Gründer, Börsenspekulanten u.a. vielfach angegriffen. Gehlsen wurde einige Male wegen Beleidigung angeklagt. Es wurde schon damals behauptet, daß das Blatt ein Revolverblatt sei. Im Jahre 1875 wurde der Titel »Eisenbahnzeitung« in »Reichsglocke« umgewandelt. Die »Reichsglocke« wurde das Leiborgan des im Oktober 1874 auf seinem Gute Nassenheide verhafteten Botschafters des Deutschen Reiches, Grafen Harry von Arnim, der bekanntlich im Dezember 1874 von der siebenten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts wegen Hinterziehung amtlicher Aktenstücke zu einem Monat Gefängnis verurteilt wurde. Der erste Strafsenat des Kammergerichts erkannte in contumaciam – Graf Arnim war inzwischen nach der Schweiz gegangen – auf 9 Monate Gefängnis. Die »Reichsglocke« nahm sehr tapfer für den Grafen Arnim Partei und richtete heftige Angriffe gegen den grimmigsten Feind des ehemaligen Botschafters, den Fürsten Bismarck, sowie gegen den damaligen Ersten Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht, späteren Oberreichsanwalt Tessendorff und gegen die Richter, die den Grafen Arnim verurteilt hatten. Eines Sonnabends, Anfang Dezember 1876, erschien in der »Reichsglocke« ein längerer Artikel, in dem der Vorsitzende der siebenten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts, Stadtgerichtsdirektor Reich, der Verübung ehrenrühriger Dinge schlimmster Art beschuldigt wurde. Gegen 6 Uhr morgens wurde die Zeitung ausgegeben. Gegen 8 Uhr morgens war bereits der Befehl zur Verhaftung Gehlsens und seines verantwortlichen Redakteurs Schellenberg erteilt. Es gelang aber nur, Schellenberg festzunehmen. Gehlsen war bereits auf dem Wege nach London. Sechs Tage später fand die Verhandlung gegen Gehlsen und Schellenberg wegen verleumderischer Beleidigung, auf Grund der §§ 185, 186 und 187 des Strafgesetzbuches statt. Die Angeklagten wurden, Gehlsen in contumaciam, zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Beide wurden einige Zeit später wegen verleumderischer Beleidigung des Fürsten Bismarck zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt. Gegen den Fürsten Bismarck wurde der Vorwurf erhoben: er habe sich für Beschaffung der Konzession zur Gründung der Preußischen Bodenkreditbank mit einer Million Mark beteiligen lassen. Die »Reichsglocke« hatte nach der Flucht Gehlsens aufgehört, zu erscheinen. Ihre Beschuldigung wurde jedoch von dem Redakteur der konservativen »Berliner Revue«, Dr. Rudolf Meyer und dem Landrat a.D. von Diest-Daber weiterverbreitet. Beide wurden deshalb angeklagt. Geh. Kommerzienrat Gerson von Bleichroeder (Berlin) und Geh. Kommerzienrat Freiherr Carl Meyer von Rothschild (Frankfurt am Main) erklärten in beiden Prozessen zeugeneidlich, daß an der Beschuldigung gegen den Fürsten Bismarck kein wahres Wort sei. Dr. Rudolf Meyer wurde im Februar 1877 von der Kriminaldeputation des Berliner Kreisgerichts zu 9 Monaten, von Diest-Daber im Juni 1877 von der dritten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt.
Gehlsen saß während dieser Zeit längst heiter und wohlgemut an den Gestaden der Themse und korrespondierte unter dem Namen Gottfried Keller für die freikonservative »Post« in Berlin, die zu den größten Verehrerinnen des Fürsten Bismarck zählte. Die Redakteure der »Post« hatten selbstverständlich keine Ahnung, daß ihr Londoner Korrespondent Gottfried Keller der ausgerissene »Reichsglöckner« Heinrich Joachim Gehlsen war. Nach einigen Jahren fuhr der damalige Chefredakteur der »Post«, Dr. Leopold Kayßler, nach London. Dort suchte er selbstverständlich auch seinen langjährigen Korrespondenten Gottfried Keller auf. Wie groß das Erstaunen des Dr. Kayßler war, als ihm der Reichsglöckner Gehlsen als Gottfried Keller entgegentrat, kann man sich ausmalen. Ob Gehlsen alsdann noch weiter für die »Post« korrespondierte, ist mir nicht bekannt. Als Kaiser Friedrich im März 1888 bei seinem Regierungsantritt eine Amnestie für politische und Preßvergehen erließ, kehrte Gehlsen nach Deutschland zurück und schlug in Charlottenburg seinen Wohnsitz auf. Er gab hier die »Charlottenburger Stadtlaterne« heraus. Die Einwohner Charlottenburgs schienen von dem Inhalt dieses Blattes wenig erbaut zu sein. Gehlsen wurde eines Abends in der Berliner Passage von einem Einwohner Charlottenburgs öffentlich geschlagen, weil er in der »Stadtlaterne« bloßgestellt war. Sehr bald darauf wurde Gehlsen verhaftet und wegen Erpressung angeklagt. Die Strafkammer des Landgerichts Berlin II verurteilte ihn Ende Dezember 1899 nach mehrtägiger Verhandlung zu einer längeren Gefängnisstrafe.
Einige Jahre später, nachdem Gehlsen die Strafe längst verbüßt hatte, wurde er im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Er hat alsdann weiter die »Stadtlaterne« herausgegeben. Er erschien auch als Zeuge in dem 1907 vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Berlin II verhandelten Prozeß wider den Journalisten Adolf Brand, der bekanntlich wegen verleumderischer Beleidigung des Reichskanzlers Fürsten v. Bülow angeklagt war. Brand wurde damals zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Er wurde von Rechtsanwalt Dr. Barnau verteidigt. Die Anklage in diesem Prozeß vertrat der Erste Staatsanwalt am Landgericht Berlin II, Preuß, später Oberstaatsanwalt und Chef der Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin I, jetzt Oberstaatsanwalt am Oberlandesgericht zu Königsberg in Preußen. Derselbe Oberstaatsanwalt vertrat in dem Skurczer Ritualmordprozeß (April 1885) vor dem Schwurgericht zu Danzig als Gerichtsassessor die Anklage. Vor einigen Jahren starb Gehlsen in größter Armut in einem Charlottenburger Krankenhause.
Gehlsen hatte, als er noch in Berlin die »Reichsglocke« redigierte, einen »Leibdiener«, namens Wilhelm Grünewald. Dieser, ein ehemaliger Kellner, der, als er noch bei Gehlsen war, gleichzeitig bei der Polizei Spitzeldienste geleistet