I. Unionsrechtswidrige Normen des nationalen Rechts
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Keine Nichtanwendungskompetenz kraft Rechtsbindung
Auch das (nach einem weiten Begriffsverständnis) unmittelbar anwendbare Unionsrecht bindet als Teil des Rechts nach Art. 20 Abs. 3 GG Gerichte und Behörden.[321] Dies erhellt aber noch nicht, wie diese mit etwaigen Konflikten zwischen nationalem und unionalem Recht umzugehen haben.
1. Fachgerichte
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Nationale Gerichte als funktionale Unionsgerichte
Die nationalen Gerichte sind – unabhängig von Rechtsweg und Instanz – verpflichtet, die volle Anwendung des Unionsrechts und den Schutz der Rechte, die den Einzelnen aus ihm erwachsen, zu gewährleisten.[322] Sie sind mithin gehalten, im Rahmen der Auslegung und Anwendung nationalen wie Unionsrechts stets auf die Sicherstellung der Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts hinzuwirken.[323] Insoweit fungieren sie als Unionsgerichte.[324] Im Falle einer Kollision müssen sie unionsrechtswidrige Normen des nationalen Rechts unmittelbar unangewendet lassen.[325] Dazu müssen sie – wie sich mittelbar aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV[326] und der Vorlagemöglichkeit im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 Abs. 2 AEUV)[327] ergibt – weder eine entsprechende Entscheidung des Normgebers noch ein die Entscheidung verzögerndes verfassungsgerichtliches Verfahren abwarten.[328] Instanzgerichte können[329], letztinstanzliche Gerichte müssen[330] – mit Ausnahme einer offensichtlichen, keine vernünftigen Zweifel zulassenden Unionsrechtswidrigkeit (acte clair) bzw. einer durch den Gerichtshof bereits geklärten Rechtsfrage (acte éclairé) [331] – allerdings zur Stärkung der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts zuvor ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH anstrengen.
2. Behörden
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Nichtanwendung oder „Verwerfung“?
Aufgrund der umfassenden Bindung der Mitgliedstaaten müssen nach unionsrechtlicher Position auch Behörden unionsrechtswidrige nationale Normen selbstständig außer Anwendung lassen (Nichtanwendungspflicht).[332] Dagegen lassen sich freilich gewichtige Argumente anführen: Praktisch motiviert ist der Einwand, dass eine solche Nichtanwendungspflicht das Risiko einer höchst unterschiedlichen Behördenpraxis birgt, die von den individuell variierenden Unionsrechtskenntnissen und der Verve des Amtswalters abhängt.[333] Aus rechtlicher Sicht problematisch erscheint, dass eine Nichtanwendung einer Verwerfung im Einzelfall zumindest faktisch gleichkommt. Die Verwerfungskompetenz ist aber rechtlich ausdrücklich bei den Aufsichtsbehörden und Gerichten, für Parlamentsgesetze beim BVerfG monopolisiert. Anders als im nationalen Recht steht dies einer Nichtanwendungskompetenz im Hinblick auf das Unionsrecht gleichwohl nicht entgegen. Denn die mitgliedstaatliche Verpflichtung zur effektiven Umsetzung des Unionsrechts geht insoweit auch den nationalen Zuständigkeiten vor.
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Nichtanwendungspflicht bei evidenten Rechtsverstößen
Daher ist im Ergebnis eine behördliche Nichtanwendungskompetenz zu bejahen,[334] diese ist jedoch auf evidente Rechtsverstöße zu begrenzen.[335] Zwar lassen sich dagegen die Einwände nicht hinreichender Umsetzung des Anwendungsvorrangs[336] und mangelnder Trennschärfe[337] erheben. Tatsächlich wird aber so ein gebotener Gleichlauf zum „hinreichend qualifizierten Verstoß“ für einen – für die innerstaatliche Verteilung von Nichtanwendungskompetenzen blinden[338] – unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch und mithin insgesamt die auch unionsrechtlich gebotene Rechtssicherheit und -klarheit erreicht.[339] Der Evidenz-Maßstab ist auch in anderen Kontexten (vgl. z. B. § 44 Abs. 1 VwVfG) verbreitet und durch richterrechtliche Kasuistik hinreichend konkretisierbar. Die teilweise vorgeschlagene[340] Monopolisierung der Nichtanwendungsentscheidung bei der Verwaltungsspitze ist hingegen abzulehnen. Dies schränkte – wie auch die Rechtsprechung des EuGH nahelegt[341] – die effektive Durchsetzung des Unionsrechts über Gebühr ein.[342]
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Einführung eines Vorlagerechts?
Die Verwaltung wird somit zu einer „Richterin“ über die Vereinbarkeit von nationalem Recht mit Unionsrecht. Überdenkenswert erscheint, dass die (juristisch ausgebildeten) Gerichte durch eine Vorlage an den EuGH Auslegungsschwierigkeiten ausräumen können, der Verwaltung eine solche Vorlage aber nicht möglich ist.[343] Um einer „anarchischen“ administrativen Nichtanwendungspraxis vorzubeugen, aber auch angesichts der Tatsache, dass die Verwaltung durch den nationalen Amtshaftungsanspruch (bei rechtswidriger Nicht-Anwendung des nationalen Rechts) und den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch (bei rechtswidriger Nicht-Anwendung des Unionsrechts) einem doppelten Haftungsrisiko ausgesetzt ist, könnte de lege ferenda ein Vorlagerecht der nationalen Verwaltung(sspitze) an den EuGH zu erwägen sein.[344]
II. Primärrechtswidrige Sekundärrechtsakte
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Verwerfungsmonopol des EuGH
Andere Grundsätze gelten für primärrechtswidriges EU-Sekundärrecht: Insofern besteht keine dezentralisierte Verwerfungs- oder Nichtanwendungskompetenz mitgliedstaatlicher Stellen, sondern ein Verwerfungsmonopol des EuGH,[345] das insbesondere durch das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) und die Nichtigkeitsklage (Art. 263 f. AEUV) effektuiert wird. Abgesehen von Fällen der ipso iure-Nichtigkeit bei offenkundiger und schwerwiegender Unionsrechtswidrigkeit[346] besteht für nationale Behörden und Gerichte stets eine Pflicht zur Umsetzung und Anwendung des Sekundärrechts[347] – und in der Folge eine Nichtanwendungs- bzw. Verwerfungspflicht für das nationale Recht. Eine anerkannte Ausnahme besteht in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, wenn die Zweifel an der Primärrechtskonformität des Sekundärrechts erheblich sind, die Entscheidung dringlich ist, bei Nicht-Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ein schwerer, irreparabler Schaden droht und das Unionsinteresse am Vollzug des Unionsrechts angemessen berücksichtigt wird.[348]
F. Einwirkungen des deutschen Rechts auf das Unionsrecht
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Öffnungsklauseln und indirekte Einwirkungen
Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht darf nicht als Einbahnstraße verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um ein reziprokes Verhältnis. Durch Normen, wie z. B. Art. 4 Abs. 2[349], Art. 6 Abs. 3 EUV[350], Art. 340 Abs. 2 AEUV und Art. 52 Abs. 4 GRCh, rezipiert die EU nationale Verfassungsinhalte. Zudem ist das deutsche Recht, auch das deutsche Verwaltungsrecht, Quelle für die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze und mitunter Inspiration und Vorbild für unionale Rechtsetzung.[351] Dies gilt auch für das deutsche Schrifttum sowie die Rechtsprechung der deutschen Verwaltungs- und Verfassungsgerichte und deren Einfluss insbesondere auf die Judikatur des Gerichtshofs der EU bzw. die Schlussanträge der Generalanwältinnen und -anwälte. Im Rahmen des Vollzugs von Unionsrecht wenden nicht nur Unionsorgane EU-Recht (direkter Vollzug) und mitgliedstaatliche Behörden nationales Recht an (indirekter Vollzug), sondern ausnahmsweise auch Unionsorgane (z. B. EZB) mitgliedstaatliches Recht.[352] Schließlich entfalten über das im deutschen