2. Geschichtliche Entwicklung
2
Die Strafmündigkeitsgrenze wurde bereits im ersten JGG vom 16. Februar 1923 auf 14 Jahre festgesetzt, nachdem sie zuvor gem. § 55 StGB a.F. bei 12 Jahren gelegen hatte. Nach dem RJGG vom 6.11.1943 konnten Kinder ab 12 Jahren bestraft werden, „wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert“. Seit dem JGG vom 4.8.1953 gilt wieder die Altersgrenze von 14 Jahren. Zur rechtlichen Situation der Strafmündigkeit in der Europäischen Union ZJJ 2019, 409-411 (grundsätzlich 14 beziehungsweise 15 Jahre, ausnahmsweise 10-12 Jahre, in Belgien und Bulgarien erst mit Volljährigkeit); zur Diskussion um die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze Beinder, JR 2019, 554-563 mit dem Vorschlag, die Altersgrenze auf 16 Jahre anzuheben.
3
Allgemein zur Entwicklung eines eigenen Jugendstrafrechts:
DVJJ-Dokumentation Geschichte der Jugendgerichtsbewegung (Sonderheft zum 25. Deutschen Jugendgerichtstag), DVJJ-J 2001; Fritsch Die jugendstrafrechtliche Reformbewegung (1871-1923), 1999; Hubert Jugendfürsorge, Jugendwohlfahrt und Jugendhilfe, 2005; Oberwittler Von der Strafe zur Erziehung? Jugendkriminalpolitik in England und Deutschland (1850-1920), 2000; Schaffstein/Miehe (Hrsg.), Weg und Aufgabe des Jugendstrafrechts, 1975; Simonsohn (Hrsg,), Jugendkriminalität, Strafjustiz und Sozialpädagogik, 2. Aufl., 1969; Voß Jugend ohne Rechte – Die Entwicklung des Jugendstrafrechts, 1986; Wolff Jugendliche vor Gericht im Dritten Reich, 1992; Wolff/Egelkamp/Mulot Das Jugendstrafrecht zwischen Nationalsozialismus und Demokratie, 1997; vgl. auch Dörner Erziehung durch Strafe. Die Geschichte des Jugendstrafvollzugs 1871-1945, 1991.
Zum Jubiläum 75 Jahre Jugendgerichtsgesetz (1923-1998):
DVJJ-J 1998, 3 ff. mit Beiträgen von Chr. Scholz, Peterich, Brehmer; DVJJ-J 1998, 162 ff.; Sonnen 75 Jahre JGG – Ein Gesetz für die Zukunft?; DVJJ-J 1998, 210 ff. mit Beiträgen von Pieplow und Fleck; DVJJ-J 1998, 328 ff.; Hübner/Kunath 75 Jahre JGG.
100 Jahre Jugendgerichte – 100 Jahre Jugendgerichtshilfe 2008 vgl. Einleitung, Rn 1-5 der 6. Auflage. Eine Momentaufnahme zum 100-jährigen über die Sonderrolle von Jugendrichterinnen und Jugendrichtern zwischen jugendstrafrechtlichem Programm und jugendrichterlicher Entscheidungspraxis präsentiert Jung GA 200B, 599-610.
100 Jahre Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V.:
DVJJ (Hrsg), Herein-, Heraus-, Heran- – Junge Menschen wachsen lassen, Dokumentation des 30, Deitschen Jugendgerichtstages vom 14. bis 17.9.2017 in Berlin (2019) mit Beiträgen u.a. von Schumann, E. Die DVJJ und die NS -Zeit, 25-90. Sonnen Schwerpunktthemen vergangener Jugendgerichtstage, ihre aktuelle praktische Bedeutung und künftige kriminalpolitische Weiterentwicklung durch die DVJJ, 629-681 Pfeiffer Jugend 1917 – Jugend 20 17, 643-653. Ostendorf Jugendstrafrecht Ultima Ratio der Sozialkontrolle junger Menschen, 657-681.
3. Geltung in den neuen Bundesländern bis 2010
4
In den neuen Bundesländern ist das JGG durch den Einigungsvertrag mit konkreten Maßgaben in Kraft getreten (Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 3 – BGBl. 1990 II s. 885J 975). Zu den Maßgaben gehörte u.a. dass an die Stelle des Wortes „Verfehlung“ bzw. „Verfehlungen“ die Worte „rechtswidrige Tat“ bzw. „rechtswidrige Taten“ treten. Statt „Zuchtmittel“ heißt es „Verwarnung Erteilung von Auflagen und Jugendarrest“. Diese Bestimmungen sind inzwischen nicht mehr anzuwenden (Art. 109 Nr. 1b und 1c Gesetz über die weitere Bereinigung von Bundesrecht vom 8.12.2010 [BGBl I 1864, S. 1880]; vgl. Brunner/Dölling § 1 Rn 6c f.).
Die praktisch bedeutsamste Änderung liegt in der Einbeziehung der Heranwachsenden. Das JGG wird rückwirkend angewendet, also auch auf rechtswidrige Taten, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangen worden sind. Hier ist allerdings das in § 2 Abs. 3 StGB verankerte Prinzip der Meistbegünstigung zu berücksichtigen. Wurde ein zur Tatzeit 18- aber noch nicht 21-Jähriger nach dem Strafrecht der DDR, das für diese Altersgruppe nur die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht vorsah, zu Freiheitsstrafe und zur Leistung von Schadensersatz verurteilt, so ist auf seine Revision hin, wenn der Schuldspruch Bestand hat, aber die Anwendung von Jugendstrafrecht in Betracht kommt, außer dem Strafausspruch auch der Ausspruch über die Entschädigung des Verletzten aufzuheben, um dem neu erkennenden Tatgericht eine JGG-gemäße Entscheidung zu ermöglichen (BGH DtZ 1991, 148 = JA 1991 2006).
4. Reform
5
In neun Bereichen sind Änderungen des Jugendstrafrechts durch das seit 1. Dezember 1990 geltende 1. JGG-ÄndG erfolgt: Ausbau der informellen Erledigungsmöglichkeiten (Diversion), neue ambulante Maßnahmen wie Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich (soziale Gruppenarbeit und Betreuungshilfe sind gleichzeitig nach den seit 1.1.1991 geltenden §§ 29 und 30 SGB VIII Leistungen der Jugendhilfe mit Angebotscharakter), Beschränkung des Freizeitarrestes, Streichung der unbestimmten Jugendstrafe, geringe Erweiteruns der Strafaussetzung zur Bewährung, leichte Verbesserung der Funktion der Jugendgerichtshilfe, Ansätze zur Vermeidung von Untersuchungshaft, Einschränkung der Untersuchungshaft gegen Jugendliche (insbesondere gegen 14- und 15-Jährige) und Ausdehnung der notwendigen Verteidigung auf Fälle, in denen Untersuchungshaft gegen Jugendliche vollstreckt wird.
6
Sieht man sich diese Veränderunsen an, wird man kaum von einer umfassenden Reform sprechen können, weil überwiegend nur die im Wege einer „inneren Reform“ veränderte Praxis gesetzlich abgesichert wird (freilich mit der Chance einer größeren Gleichbehandlung; vgl. Viehmann Die große Illusion, ZJJ 2010, 357-362). Der Wert des 1. JGGÄndG liegt eher in der kriminologischen Begründung und der klaren kriminalpolitischen Orientierung. Jugendkriminalität wird in erster Linie als entwicklungsbedingte Auffälligkeit und nicht als Erziehungsdefizit angesehen. Von daher ergibt sich die Forderung nach normalen Reaktionsformen auf ein normales Phänomen. Informelle Erledigung steht im Vordergrund. Neue ambulante Maßnahmen sollen die stationären Sanktionen weitgehend ersetzen, ohne dass sich die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht. Die schädlichen Nebenwirkungen von Untersuchungshaft, Jugendarrest und Jugendstrafe werden ausdrücklich genannt (BT-Drucks. 11/5829 v. 27.11.1989).
7
Überblick zum 1. JGG-ÄndG:
Böhm NJW 1991,