II. 19. und beginnendes 20. Jahrhundert
Zu Anfang des 19. Jahrhunderts wandelte sich auch, mindestens im „Selbstverständnis“ der Juristen, die Rolle der Rechtswissenschaft. In deutlicher Reaktion gegen den etatistischen Rechtsbegriff der französischen Revolution, der der Jurisprudenz nur eine bescheidene Aufgabe zuwies, entwickelte sich nun die Vorstellung von der schöpferischen Funktion der Rechtswissenschaft. Eindringlichster Theoretiker dieser Richtung war → SavignySavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861). Seine Gedanken von der gegenüber staatlicher Rechtssetzung selbständigen Bedeutung der Rechtswissenschaft sind über die sie begünstigende politische Zeitströmung (Restauration) und die mit ihr verbundene Rechtsquellenlehre hinaus bis in die Gegenwart wirksam geblieben, wie überhaupt die Wissenschafts- und Bildungsgläubigkeit des frühen 19. Jahrhunderts (Humboldt, Fichte, Schleiermacher). So erscheinen von nun an Wissenschafts-, Rechts- und politische Geschichte stärker als vorher gegeneinander verselbständigt; die Geschichte der Rechtswissenschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts läßt sich daher weitgehend in den auch für die anderen „Geisteswissenschaften“ geltenden Kategorien beschreiben. Sie bilden auch den gemeinsamen Bezugspunkt für die Rechtswissenschaft in den verschiedenen europäischen Ländern, deren gemeinsame Quellenbasis mit der Zurückdrängung des Naturrechts und der Ersetzung des römischen „ius commune“ durch die einzelstaatlichen Kodifikationen nun verloren gegangen war.
1. Historische Schule
Für die deutsche Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert wurden die von → SavignySavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861) aufgestellten Grundsätze der „historischen Schule“ maßgebend, nach denen das Recht historisch-systematisch, ohne Beimischung philosophischer, „naturrechtlicher“ Prinzipien bearbeitet werden sollte. Bei → SavignysSavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861) Nachfolgern verdrängte dann allmählich |7|das systematische Element ganz das historische, so schon bei → PuchtaPuchta, Wolfgang Heinrich (1769–1845); Justizamtmann, später Landrichter, noch entschiedener bei → JheringJhering, Rudolf von (1818–1892) (in seiner ersten Periode) und bei → WindscheidWindscheid, Bernhard (1817–1892), der diese Epoche abschließt und dessen Pandektenlehrbuch von großem Einfluß auf das deutsche BGB von 1896 war. Die historische Schule ist früher dem „Rechtspositivismus“ zugeordnet worden, aber zu Unrecht. Mit ihrer Vorstellung, daß das Recht ein organisches, vernünftiges und aus sich selbst heraus ergänzbares Ganzes ist, trägt sie idealistische Züge, die allerdings eine „formalistische“ Abschließung gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft begünstigten. – Wie die Bearbeiter des römischen Rechts standen auch die meisten Germanisten – entsprechend den verschiedenen Quellen des Zivilrechts blieb diese Unterscheidung bis zum BGB, das beide Rechtskreise verschmolz, bestehen – unter dem Einfluß → SavignysSavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861). Das gilt vor allem für dessen Zeitgenossen → EichhornEichhorn, Karl Friedrich (1781–1854), aber auch für jüngere Deutschrechtler wie Albrecht und Homeyer. Etwa von der Mitte der dreißiger Jahre an setzte sich aber eine starke Gruppe gemäßigt (→ BeselerBeseler, Georg (1809–1888)) bis radikal (Reyscher) liberaler Germanisten von den Romanisten, die theoretisch und praktisch das nationalpolitische Anliegen nicht genügend zu vertreten schienen, ab. Ihre Bewegung mündete nach den Germanistenversammlungen von 1846 (Frankfurt) und 1847 (Lübeck) ziemlich gradlinig in der Paulskirchenversammlung, der u.a. → BeselerBeseler, Georg (1809–1888) (sehr einflußreich), → Jacob GrimmGrimm, Jacob (1785–1863) und → MittermaierMittermaier, Karl Josef Anton (1787–1867) angehörten. Zu einer wirklich neuen Rechtstheorie führten die Arbeiten dieser jüngeren Germanisten aber nicht, so daß sich auch noch ihr letzter bedeutender Vertreter, der 1841 geborene → Otto v. GierkeOtto (1815–1867); bayer. Prinz, König v. Griechenland, der Rechtslehre → SavignysSavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861) verbunden fühlen konnte.
Weitgehend unter dem Einfluß der historischen Schule standen auch die nun verstärkt einsetzenden Bemühungen um die partikularen Privatrechte. Am meisten gilt das für Wächters Bearbeitung des württembergischen Privatrechts (anders die Arbeit Reyschers), mit gewissen Einschränkungen auch für Falcks Darstellung des schleswig-holsteinischen und die des preußischen Privatrechts durch Bornemann, Koch und Dernburg. Am wenigsten von der historischen Schule beeinflußt blieb verständlicherweise das rheinische Recht (code civil, K.S. Zachariä, → DanielsDaniels, Heinrich Gottfried Wilhelm (1754–1827)).
Auch in Österreich und der Schweiz wurde die historische Schule bedeutsam. → BluntschliBluntschli, Johann Caspar (1808–1881), der Schöpfer des Zürcher Privatrechtsgesetzbuches von 1853–55, auf das noch → Eugen HubersHuber, Zacharias (1669–1732); niederl. Jurist schweizerisches Zivilgesetzbuch von 1907 zum Teil zurückgriff, war ein Schüler → SavignysSavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861). Für Österreich hat man geradezu eine „Rezeption“ der |8|deutschen Pandektenwissenschaft durch → UngerUnger, Josef (1828–1913) gesehen, der das ABGB (→ ZeillerZeiller, Franz v. (1751–1828)) von 1811 „romanisierte“. Einflüsse der historischen Rechtsschule zeigen sich aber auch etwa in Dänemark (→ ØrstedØrsted, Anders Sandøe (1778–1860)) und Schweden (→ SchlyterSchlyter, Carl Johan (1795–1888)). Generell stellte in der europäischen Rechtswissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts die historisch-systematische Richtung das „wissenschaftliche“ Gegengewicht zu den „exegetischen“ Schulen dar, die sich nach den Kodifikationen vor allem in Österreich und Frankreich gebildet hatten.
Schließlich waren auch den großen Darstellungen des Handelsrechts (Thöl, Levin Goldschmidt), durch die dieses Fachgebiet neben dem allgemeinen Zivilrecht selbständigen wissenschaftlichen Rang erhielt, die Prinzipien der historischen Schule zugrunde gelegt.
Gleichwohl läßt sich von einer völligen Herrschaft der historischen Schule im deutschen Sprachraum keineswegs sprechen. Auch abgesehen von den abtrünnigen Germanisten der vierziger Jahre gab es von Anfang an unterschiedliche, z.T. mehr praktisch (→ ThibautThibaut, Anton Friedrich Justus (1772–1840)), z.T. mehr philosophisch (die Hegelschule, vor allem Gans) akzentuierte Gegenströmungen.
Im Strafrecht ließ das an der Wende zum 19. Jahrhundert besonders heftig diskutierte Problem der philosophischen Grundlagen die Wendung zu einer historischen Betrachtungsweise nicht ohne weiteres zu. Immerhin hatte → FeuerbachFeuerbach, Paul Johann Anselm (1775–1833), der Schöpfer der aufklärerisch-liberalen „psychologischen Zwangstheorie“, in seiner zweiten Periode (etwa ab 1810) sehr starke empirische Interessen. Ganz in den Vordergrund traten diese bei seinem Schüler → MittermaierMittermaier, Karl Josef Anton (1787–1867). Gleichzeitig entwickelten sich jedoch, sehr viel stärker als im weniger ideologieanfälligen Zivilrecht, hegelianische Vorstellungen (Köstlin, Berner). Durch sie wurde gegenüber der → FeuerbachFeuerbach, Paul Johann Anselm (1775–1833)schen Generalpräventionstheorie die Vergeltungstheorie wieder herrschend; das Interesse an Aufklärung der tatsächlichen Voraussetzungen des Verbrechens und des Strafvollzugs trat zurück. Die Vergeltungstheorie wurde schließlich auch noch festgehalten, als ihre philosophische Begründung verblaßt und die Strafrechtslehre in eine rein positivistische Behandlung des StGB von 1871 eingeschwenkt war (→ BindingBinding, Karl (1841–1920)).
Die Staatsrechtswissenschaft stand nach dem Ende des alten Reichs und der Durchsetzung konstitutioneller Ordnungen in den Einzelstaaten vor einer völlig veränderten Aufgabe. Unter den Bearbeitungen der Partikularstaatsrechte ragt → MohlsMohl, Robert v. (1799–1875) gemäßigt liberales württembergisches Staatsrecht hervor. Es war noch unbeeinflußt vom Formalismus der historischen Schule,