„Warum ist die Königin von Verlorenherz denn so hart?“, fragte Til seinen Freund, den Narren Silberspiegel, aber der Narr gab ihm keine Antwort, sondern blickte nur weiter auf die traurigen Menschen.
Einige Menschen stiegen jetzt endlich in den Zug nach Verlustig ein, aber andere wurden von ihren Angehörigen immer wieder festgehalten und umarmt. Es gab viele Menschen, die die Hände ihrer Eltern, Kinder oder Freunde gar nicht loslassen wollten. Wieder rief der Lokführer mit den bunten Haaren „Abschied, Abschied, Abschied!“ – Da stiegen schließlich auch die letzten Menschen in den Zug und mussten ihre Angehörigen zurücklassen. Die Türen schlossen sich.
Viele Menschen liefen dem wegfahrenden Zug noch ein Stück hinterher. Sie winkten, schrien, weinten und verfluchten die Königin von Verlorenherz. Der Zug fuhr aus dem Bahnhofsgebäude heraus und verschwand dann weiter draußen in einem merkwürdigen weißen Nebel – es schien, als hätte dieser Nebel den Zug VERLUSTIG-EXPRESS einfach verschluckt.
Und Til dachte plötzlich: Vielleicht ist auch mein Vater dort? – In Verlustig!
Kapitel 5
Rafael traute seinen Augen nicht: In Tils Bett lag der Junge aus dem Wald! Das durfte nicht wahr sein! Hatte der Junge aus dem Wald nicht versprochen, alles rückgängig zu machen, sobald Mama den Ring von Rafaels Finger ziehen würde? Und wo war der Ring jetzt? Bei Mama? Rafael verstand nichts mehr. Am liebsten hätte er sich auf den Jungen gestürzt und ihn angeschrien: „Was hast du mit meinem Bruder gemacht?!“ Aber schließlich schlief seine Mama nebenan in ihrem Schlafzimmer. Also beschloss er, sich wieder in sein Bett zu legen und bis zum nächsten Morgen zu warten.
Er schlief lange nicht ein, weil er in der Dunkelheit immerzu an Til denken musste: Hatte der merkwürdige Junge aus dem Wald jetzt Tils Platz eingenommen? Woher kam er nur? Und was würde Mama dazu sagen? Niemals würde sie Rafael diese Geschichte glauben!
Wäre Til doch wieder Til und ich könnte mit ihm Fußball spielen, ganz allein mit ihm trainieren, wie wir es manchmal getan haben, dachte Rafael, auch wenn Til mich oft dazu zwingen musste, mit ihm auf der überwucherten Wiese am Straßenende zu trainieren, weil ich lieber im Haus geblieben bin und Bücher gelesen habe. Und wenn Til jetzt für immer wegbleibt? Nein, das darf ich nicht zulassen! Am liebsten würde ich den Jungen aus dem Wald ordentlich verhauen! Selbst kleine Zauberer, wie er wohl einer ist, sollten ihr Wort halten!
Am nächsten Morgen wachte Rafael früh auf – es war halb sieben Uhr morgens. Draußen war es schon hell, denn es war Mai, und durch die Vorhänge vor den Fenstern drang schon das Tageslicht ins Zimmer. Bald würde Mamas Wecker klingeln. Dann würde sie Frühstück machen und Rafael und Til wecken – die beiden Jungen müssten aufstehen, sich waschen, ihre Schultaschen packen, frühstücken und ihre Mama würde inzwischen zu ihrer Arbeit in die Stadtbibliothek fahren.
Til!, dachte Rafael und erschrak. Zuerst muss ich wissen, ob der Junge aus dem Wald immer noch oben im Bett liegt! Leise stieg er aus seinem Bett. Er wollte den Jungen nicht wecken, das traute er sich nicht, denn irgendwie hatte er Angst davor, was passieren würde, wenn dieser seltsame Junge erwachte.
Vorsichtig kletterte Rafael zwei Sprossen der Leiter des Etagenbetts hoch, damit er ganz ins Bett hineinsehen konnte. Aber das ist unmöglich!, dachte er: Im Bett lag nun wieder sein Bruder Til und schlief, als ob es überhaupt nie einen Jungen aus dem Wald gegeben hätte! Habe ich das alles vielleicht nur geträumt?, fragte sich Rafael, obwohl er sich das kaum vorstellen konnte.
Eine Zeitlang stand Rafael auf der Leiter und überlegte, was er jetzt tun sollte. Schließlich beschloss er, seinen Bruder aufzuwecken. Er flüsterte ein paar Mal „Til!“, doch der regte sich nicht: Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und atmete ganz ruhig. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm zerzaust ins Gesicht – das erinnerte Rafael daran, wie Til oft aussah, nachdem er Fußball gespielt hatte: Verschwitzt, mit zerzaustem dunkelblonden Haar, aber glücklichen blaugrünen Augen und einem zufriedenen Lächeln. So kannte er seinen Bruder. Dieser Junge musste einfach Til sein!
Plötzlich stand Julia in der Tür. „Aufstehen, Rafael und Til!“, rief sie.
Rafael schauderte, als Til in diesem Moment die Augen aufschlug. Er sah genauso aus wie sein Bruder, gähnte einmal kräftig, streckte seine Glieder und richtete sich im Bett auf. Rafael war sich jetzt ganz sicher, dass es sein Bruder Til war …
Kapitel 6
„Narr Silberspiegel!“, sagte Til, der immer noch am Bahnhof von Verlorenherz stand. „Erkläre mir doch einmal, warum noch nie jemand aus Verlustig zurückgekommen ist!“
Narr Silberspiegel blickte auf die Menschen, die immer noch am Bahnhof standen und um ihre Angehörigen weinten, die soeben im VERLUSTIG-EXPRESS aus der Stadt gebracht worden waren.
„Es hat mit der Geschichte der Königin von Verlorenherz zu tun“, sagte er, blickte in seinen kleinen, runden Silberspiegel und begann, zu erzählen:
Es war einmal eine liebe Königin, die hatte einen noch lieberen Gatten, den Herrn König von Weichlieb. Sie liebte ihn von ganzem Herzen. Unter seiner Herrschaft herrschte überall im Reich Frieden und Glück und das Königreich hieß damals Weichlieb, nicht Verlorenherz. Der König von Weichlieb war ein lieber König und er wollte sein Glück mit allen Menschen in seinem Reich teilen. Es gab auch keinen Hass, keinen Neid und keine Eifersucht in diesem wunderbaren Reich, denn alle Menschen liebten und achteten einander.
Der König von Weichlieb unternahm gern weite Reisen auf magischen Teppichen, aber diese Fliegerei des Königs von Weichlieb gefiel der Königin leider gar nicht. Immer hatte sie Angst, dass der König von Weichlieb von seinen weiten Reisen nicht mehr zurückkehrte. Eines Tages musste sich die Königin wie so oft vom König von Weichlieb verabschieden, denn er plante wieder einmal eine weite Reise auf einem seiner magischen Teppiche. Es war ein warmer Herbstabend, an dem der König und die Königin im Schlossgarten unter zahlreichen bunten Bäumen Abschied nahmen. Die Bäume verloren schon ihre ersten Blätter und als die Königin das sah, überkam sie ein eigenartiges Gefühl der Trauer. Der König von Weichlieb schenkte ihr noch einen Abschiedskuss und flog dann munter auf seinem Teppich davon, der war so bunt wie das Laub der Herbstbäume. Es war das letzte Mal gewesen, dass die Königin ihn gesehen hatte. Der König wurde lange gesucht, aber nirgendwo gefunden. Die Königin war nun ganz allein und sehr traurig. Der ganze Hofstaat machte Anstalten, die Königin wieder zu verheiraten, doch keiner der Anwärter gefiel der Königin so wie ihr verschwundener König von Weichlieb.
Tagsüber blieb die Königin nun immer in ihrem Schloss. Manchmal schlich sie sich aber nachts nach draußen und ging dann durch die Straßen und Gassen der Stadt. Oft sah sie reiche Menschen, die sich an ihren Reichtümern erfreuten, an hohen Häusern oder teuren Autos, und sie sah Menschen, die jung gestorben, aber in Weichlieb glücklich wieder vereint waren und sich küssten und umarmten. Da wurde ihr bewusst: Ihrem Volk ging es besser als ihr selbst.
Das machte sie endlich so wütend, dass sie befahl, dass in ihrem Land fortan kein Mensch mehr etwas behalten sollte, weder einen geliebten Menschen noch ein Tier noch ein Haus noch auch nur den kleinsten Gegenstand. Wenn ein Mensch beispielsweise ein schönes Auto besaß, von dem er glaubte, dass es ihm nun gehörte, so verwandelte sich dieses Auto am nächsten Tag in ein neues und am übernächsten wiederum in ein neues und immer so weiter. Kein Gegenstand blieb in Verlorenherz länger als einen Tag bei einem Menschen, selbst Pullover, Hosen, Mäntel, ja sogar Zuckerdosen und Pfannen und so weiter gingen nach kürzester Zeit verloren. Dann mussten die Menschen stets zur Königin von Verlorenherz gehen und sie um neue Dinge bitten und die Königin hatte dann allerhand zu tun, den Menschen diese Dinge herbeizuzaubern, die sie brauchten, aber das lenkte sie wenigstens von ihrer eigenen Trauer ab.
Aber Menschen konnte die Königin natürlich nicht ersetzen – und es gab ein Gesetz im ganzen