Stille Pfade. Philipp Lauterbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philipp Lauterbach
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783944771311
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wie sollen wir dann den Mangel an Arbeitskräften decken?“, hörte Stanislaw eine tiefe Männerstimme aus dem Plenum hinter ihm. Der Wächter der Freiheit beherbergte neben der zentralen Verwaltung auch den Senat von Freistadt. Jene Institution, welche durch die Stadtbevölkerung gewählt und deren Interessen im Königreich vertreten sollte. Aber so schön die Idee in der Theorie auch klang, war der Senat nicht weniger Machtinstrument der Reichen als das Geburtsrecht der Adligen - denn ohne die nötige Menge an Reichsmark hatte es bis jetzt noch kein Stadtbewohner bis in den Senat geschafft. Die tiefe Männerstimme zum Beispiel gehörte Wilhelm Krause. Und Wilhelm Krause war nicht nur der amtierende Patriarch des industriellen Krause-Clans, sondern auch ein einflussreiches Mitglied des Senates von Freistadt.

      Stanislaw folgte den Ausführungen Krauses nicht weiter, sondern widmete sich lieber wieder dem Nachthimmel über den Dächern der Stadt. Mit Anbruch der Nacht beanspruchten Dunkelheit und Gestirne das, was ihnen seit Anbeginn der Zeit zustand. Das war allerorts so - außer im Inneren Ring von Freistadt. Dieser erstrahlte auch in der tiefsten Nacht taghell und bildete einen unnatürlichen Kontrast zu seiner Umgebung. Die Wohlhabenden der Stadt hatten die künstliche Beleuchtung ihres Wohnviertels zu jeder Tages- und Nachtzeit zu einem Symbol des Fortschritts deklariert. Stanislaw konnte diese Einstellung nicht nachvollziehen. Er hatte vielmehr das Gefühl, dass die Sterne seit diesem Tage nicht mehr in der gleichen Intensität über Freistadt schienen als zuvor und die Entwicklung der gasbetriebenen Straßenlaternen somit eher einem Rückschritt gleichkam.

      „Mit dem Verband der Großgrundbesitzer im Süden reden?“, polterte Wilhelm Krause erneut und nötigte Stanislaw mit seiner ungehobelten Art nun endgültig zum zuhören. „Seid Ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Ich weiß ja, dass Ihr den Senatsvorsitz innehabt, doch sollte in dieser Sache nicht vielleicht jemand entscheiden, der über ein wenig mehr Lebenserfahrung verfügt als Ihr?“

      Vielleicht wird die heutige Senatssitzung ja doch noch unterhaltsam. In freudiger Erwartung wandte sich Stanislaw vom Balkon ab und trat zurück in den Senatssaal.

      „Etwas mehr Lebenserfahrung?“, wiederholte die Senatsvorsitzende mit selbstbewusster Stimme. „Was meint Ihr damit genau, Herr Krause? Jemanden der älter ist oder jemanden, der mehr Erfahrung und Erfolge auf dem Gebiet vorzuweisen hat?“ Wilhelm Krause zog nach der Rückfrage der Vorsitzenden die Blicke der meisten Senatsmitglieder auf sich, was ihm sichtlich unangenehm war. „Ich selbst leite die Unternehmen meiner Familie zwar erst seit wenigen Jahren“, fuhr die Senatsvorsitzende unbeirrt fort, „doch habe ich in dieser kurzen Zeit die Umsätze von Krause & Co. bereits bei Weitem übertroffen.“

      Die Senatsvorsitzende war aktuell Stefanie Seidel. Eine junge und überaus attraktive Frau, welche die Geschäfte ihrer Familie vor vier Jahren von ihrem überraschend verstorbenen Vater übernommen hatte. Und sie machte ihre Sache wirklich gut. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie mit ihrer energischen Art die Fabriken ihrer Familie wieder an die Spitze Freistadts zurückgeführt. Konsequent setzte die Frau mit dem strohblonden Lockenschopf dabei auf die Entwicklung neuer Technologien sowie die Verbesserung bestehender Prozesse. Eine Strategie, die sich auszuzahlen schien.

      „Ich meinte nur“, stammelte Krause verlegen und blickte hilfesuchend zu den anderen Senatsmitgliedern. Doch keiner tat dem Bloßgestellten den Gefallen und griff in die Auseinandersetzung ein. Denn niemand in diesem Plenum hatte auch nur das leiseste Interesse an einer Konfrontation mit Stefanie Seidel.

      „Sie meinen nur was, Herr Krause?“, ergriff die Vorsitzende erneut das Wort. „Bitte denken Sie nicht, dass ich Ihr vorgebrachtes Argument als Vorsitzende dieses ehrenwerten Senats nicht für Voll nehme. Es ist einfach nur so, dass ich ihre Argumentation nicht nachvollziehen kann.“ Aus der Zurechtweisung hörte Stanislaw weder Arroganz, noch persönliche Missachtung heraus. Trotz des plumpen und überaus unhöflichen Angriffs blieb Stefanie Seidel vollkommen professionell. Vielmehr schwang sogar eine gewisse Wärme in der melodischen Stimme mit. Eine Wärme, die es in der Vergangenheit bestimmt schon so manchem Diskussionspartner leichter gemacht hat, der jungen und vermeintlich unerfahrenen Frau letzten Endes doch zuzustimmen. Der Magier spürte deutlich einen gewissen Stolz in sich aufkeimen und verschränkte selbstzufrieden seine Arme vor der Brust.

      Er selbst hatte viele Stunden seiner Zeit in die Ausbildung Stefanie Seidels investiert. Allerdings war das viele Jahre her. Stanislaw war damals ein junger Professor an der Akademie der Zauberkünste und wurde immer mal wieder von wohlhabenden Familien als Privatdozent engagiert. Stefanie besaß zwar keinerlei magisches Potential, doch war sie weitaus intelligenter als die meisten anderen Privatschüler, die er zu jener Zeit unterrichtet hatte. Wäre sie damals nur nicht so jung gewesen, dachte Stanislaw unverhohlen und lehnte sich mit seinen Rücken gegen die Wand des Senatsaals, peinlich darauf bedacht, sein maßgeschneidertes Sakko nicht zu verunreinigen.

      „Herr Krause wollte sicherlich nur darauf hinweisen, dass wir den Verband der Großgrundbesitzer nicht unterschätzen dürfen“, erbarmte sich Claudia Sonnerich schließlich, woraufhin Wilhelm Krause ihr dankbar zunickte. Claudia Sonnerich war eine weitere Industrielle im Senat. Ihre Familie konzentrierte sich noch immer auf die Textilproduktion und spielte somit bei Weitem nicht in der gleichen Liga wie die Krauses oder Seidels. „Zwar handelt es sich bei den Großgrundbesitzern nur um provinziellen Adel, doch sind sie überaus gerissen“, ermahnte sie in ruhigem Ton alle Senatsmitglieder. „Zudem würde unsere schöne Stadt ohne die Lebensmittellieferungen aus der Südlichen Provinz nicht lange überleben.“ Dieses Argument erntete breite Zustimmung unter den Senatsmitgliedern.

      „Meine Damen und Herren, bitte beruhigen Sie sich“, unterbrach die Vorsitzende das Gemurmel und stand dabei von ihrem Platz auf. Theatralisch beugte sich Stefanie nach vorne und stütze sich mit ihren Händen auf dem Senatstisch ab, bevor sie weiter ausführte: „Ich bin mir im Klaren darüber, dass wir die Großgrundbesitzer aus dem Süden nicht unterschätzen dürfen. Auch ist mir bewusst, dass sich Freistadt als Folge des extremen Bevölkerungswachstums der letzten Jahre aktuell nicht mehr selbst ernähren kann.“ Ihre Augen sammelten jedes Senatsmitglied einzeln ein. „Wenn wir weiterhin wachsen und unseren Einfluss im Königreich vergrößern möchten, müssen wir mit dem Süden verhandeln.“ Stanislaw sah in den meisten Gesichtern Skepsis. Auch nahm das unruhige Gemurmel wieder zu. „Zudem gibt aktuell keine andere Provinz, die uns bei der Lösung eines weiteren großen Problems helfen könnte: dem Mangel ans fähigen Arbeitskräften“, erklärte die Senatsvorsitzende weiter. „Die Westliche Provinz ist nur dünn besiedelt und durch den expandierenden Kohlebergbau selbst vollkommen ausgelastet. Der Norden wird insgeheim von der Handelsgilde kontrolliert und unser allseits geliebter König in der Östlichen Provinz, nun ja, der ist eifersüchtig auf Freistadt, weil wir etwas geschaffen haben, zu dem er niemals fähig gewesen ist.“

      „Hört, hört!“, tönte es selbstgefällig aus dem Plenum. Mit ihrer abschließenden Bemerkung hatte sich Stefanie Seidel nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch das Wohlwollen vieler Senatsmitglieder gesichert. Es war im gesamten Königreich allseits bekannt, dass den Königshof und Freistadt eine gegenseitige Abneigung verband.

      Beide lebten in verschiedenen Welten: Wieland III. stand als König der Fünf Provinzen und monarchischer Herrscher vor allem für die alte Ständeordnung und die Anbindung an das Kaiserreich. Ihm ging politische Stabilität, und somit die Unantastbarkeit seiner eigenen Position, über alles. Der Senat von Freistadt hingegen war ein gewähltes Gremium und predigte den Wandel durch Fortschritt. Es war nicht so, dass es die einfache Bevölkerung in einer dieser gegensätzlichen Welten grundsätzlich besser hatte als in der anderen - es waren lediglich andere Herangehensweisen.

      „Und deswegen müssen wir zwangsläufig mit der Südlichen Provinz verhandeln“, schloss Stefanie Seidel ihre Argumentation. „Dort leben so viele Bauern auf den Ländereien der Großgrundbesitzer, dass wir damit unseren Bedarf an Arbeitskräften problemlos um ein Vielfaches decken können.“

      „Aber in der Südlichen Provinz gilt noch immer die Leibeigenschaft!“, folgte ein Einwand aus den Senatsreihen. „Und die Großgrundbesitzer werden die Bauern nicht einfach ziehen lassen, selbst wenn diese von sich aus nach Freistadt kommen wollten.“

      „Deswegen müssen wir ja verhandeln“, wiederholte die Vorsitzende ohne ein Zeichen