Ein Heiliger kann jeder werden. Hubert Gaisbauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hubert Gaisbauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783702233563
Скачать книгу

       E una buona pasta

      Das Heilige Jahr 1900 brachte im September noch eine willkommene Abwechslung. Angelo wurde zu einer Pilgerfahrt der Diözese Bergamo nach Rom, Assisi und Loreto eingeladen. Wieder kam es zu einer Begegnung mit Monsignore Radini Tedeschi, der die Pilgergruppe aus Bergamo zur Freude Angelos durch das Ewige Rom führte. Zum ersten Mal sah der Bauernjunge die großen Basiliken, das Colosseum, das Forum Romanum, die Katakomben und – den Papst, den verehrten Heiligen Vater Leo XIII.! Dieser machte mit seinen neunzig Jahren noch einen vitalen Eindruck und hatte eine kräftige Stimme.

      Im säkularen Rom feierten die Antiklerikalen in gehässigster Weise schon tagelang den 30. Jahrestag des Endes des Kirchenstaates verbunden mit Demonstrationen auf dem Campo dei Fiori, zum 300. Jahrestag der Verbrennung des Giordano Bruno, der mit seiner Vision von der Unendlichkeit des Universums und seinen pantheistischen Ideen auch noch im 19. Jahrhundert Weltbild und Glaubensgewissheit der römischen Kirche in Frage gestellt hat.

      Im Heiligen Jahr 1900 wurde auf den Straßen Roms jeder Kleriker in Talar und Tellerhut offen geschmäht und verspottet, eine schlimme Erfahrung auch für den innerhalb seiner Seminarmauern wohlbehüteten Angelo Roncalli. Ernüchternd war für ihn vor allem der Massenauflauf vor dem Marienheiligtum von Loreto. Fast sechzig Jahre später erzählt Johannes XXIII. anlässlich seiner Wallfahrt für das Gelingen des Konzils, er habe damals bei seinem ersten Besuch in Loreto, völlig verstört von der lärmenden und schnatternden Menge, der Madonna gelobt, er werde sie immer lieben, immer dem Glauben treu und ein braver Seminarist bleiben, aber hier werde sie ihn nicht mehr sehen.

      Nach seiner Rückkehr von der Pilgerfahrt war es der Wunsch von Bergamos Bischof Guindani, dass sich Roncalli um einen der drei Stipendienplätze der Stiftung »Canonico Flaminio Cerasola« am berühmten Römischen Priesterseminar bewerbe. Als er nach einer entsprechenden Prüfung erfuhr, dass er zu den drei auserkorenen Seminaristen gehörte, war er überglücklich, obwohl er sein geliebtes Bergamo verlassen musste. Mit dem Nachtzug kam Angelo am 4. Jänner 1901 in Rom an, um sich »in die edle Kette der Cerasola-Alumnen einzureihen«, so der Rektor des Seminars von Bergamo. Im Beurteilungsschreiben an die Leitung des »Apollinare«, wie das Römische Seminar kurz genannt wurde, ist unter anderem zu lesen: »Roncalli war auch Präfekt am hiesigen Seminar, er ist von guter Art – e una buona pasta –, die sich leicht führen lässt – che si lascia maneggiare come si vuole.« Oder weniger freundlich in der Sprache der Köche, aus der die Redensart stammt: »Er ist ein guter Teig, der sich leicht formen lässt.« Das Seminar war ein etwas renovierungsbedürftiger Palazzo aus der Barockzeit. Für die Absolventen waren die Prognosen nicht ungünstig, einmal für höhere Ämter vorgesehen zu sein, wurden sie doch fallweise auch zu Diensten in der Kurie herangezogen.

      Und so ließ sich Angelo Roncalli im ersten Jahr am Römischen Seminar fotografieren: Da sitzt ein selbstbewusster, hübscher junger Mann in Talar, Mantel und Schnallenschuhen, den rechten Arm aufgestützt auf der Kante eines Fin de Siècle-Tisches mit effektvoll darauf postiertem Kruzifix.

      Die Heimat war nun sechshundert Kilometer entfernt, von Bergamo nach Sotto il Monte war es ein Fußmarsch von mindestens drei Stunden, jetzt ist es von Rom nach Bergamo eine Tages- oder Nachtreise mit dem Zug. Damit beginnt eine Quelle zu fließen, die uns neben den religiösen Rechenschaftsberichten des Klerikers im Geistlichen Tagebuch auch profane Einblicke in die Lebensumstände des Menschen Angelo Roncalli gewährt: der Briefwechsel mit der Familie. Dokumentiert sind verständlicherweise nur die Briefe Roncallis, jene seiner Familie an ihn werden sich wohl nur auf die notwendigsten Mitteilungen beschränkt haben. Bereits eine Woche nach Ankunft in Rom der erste ausführliche Brief Angelos: »Wisst Ihr, das Leben hier ist anders als in Sotto il Monte oder in Bergamo. Wir leben hier wie Herren. Man sagt mir sogar, ich hätte mich schon im Aussehen verändert und werde alle Tage dicker.« Angelo hatte ein spartanisches Einzelzimmer, aber mit allem Notwendigen, das Studium machte keine Mühe, und »in der Kapelle wird eine sehr schöne ›Muttergottes der Zuversicht‹ verehrt, der ich Euch jeden Morgen und jeden Abend empfehle, damit sie Euch segne, Euch Frieden und Trost in all Eurem Verdruss und Eurer Trübsal gebe.«

      Bei einer Akademie im Propaganda Fide-Kolleg erlebte er gleich in der ersten römischen Woche Weltkirche. Vierzig junge Missionare hätten einige Tage nach Dreikönig in vierzig [sic!] verschiedenen Sprachen ihre Huldigungen an das Jesuskind, »den Herren aller Völker« vorgetragen. »Wenn ihr das gesehen hättet! Da waren alle Farben vertreten, weiße, gelbe, rote. Einige hatten das Gesicht, die Hände schwarz wie Kohle. – Und der Papst? Ich konnte ihn am Sonntagabend in St. Peter inmitten von tausend Lichtern sehen. Ich konnte nahe bei ihm sein und ihn gut sehen und seinen Segen empfangen. Und er, der gute alte Mann, hat auch Euch alle miteinander gesegnet. Seid also nochmals alle getrost […]. Schaut nach oben und lasst keinen Zorn aufkommen! Vergesst nicht den ›Engel des Herrn‹!

      Grüßt alle! Addio! Der Herr segne Euch!

      Euer Kleriker Angelo.«

       Apropos

      Bergamo ist eine Reise wert. Im völlig umgebauten Priesterseminar erinnert eine große Statue an Papst Johannes XXIII., den einstigen Schüler und Spiritual dieses Hauses. Neben der berühmten Capella Colleoni besuche man die Basilika Santa Maria Maggiore, die eine kunsthistorische Kostbarkeit birgt: die »Tarsie del coro«, dreiunddreißig Szenen aus dem Alten Testament als Holzintarsien nach Entwürfen von Lorenzo Lotto. Von diesem venezianischen Maler, der vom Geist Bergamos geprägt und in Loreto gestorben ist, befinden sich noch mehrere hervorragende Gemälde in der Accademia Carrara (»Das Verlöbnis der heiligen Katharina«) sowie drei große Altarblätter in San Bartolomeo, San Bernardino und Santo Spirito. Roncalli hat sie alle gekannt und ihre feine Psychologie und bodenständige Frömmigkeit geschätzt.

       Liebe Mutter,

       wieder stehen wir vor dem Annatag. Immer scheint es jedes Jahr der letzte zu sein, an dem wir uns die Glückwünsche senden. Doch der Herr gewährt Euch und mir, jeden Tag weiterzuleben. Preisen wir ihn miteinander und leben wir weiter, als wolle Er uns nicht nur eines, sondern viele Jahre gewähren. Und er wird sie uns gewähren. Wir sind nicht auf der Welt, um nichts zu tun. Ihr arbeitet für die Familie. Ich fahre fort, für die heilige Kirche zu wirken. Eine wertvolle Arbeit sowohl die Eure wie auch die meinige. Ich lege Euch zum Trost einen Hundert-Lire-Schein bei. Die Schwestern bitten mich, Euch zu sagen, dass Ihr ihn für Euch verwenden sollt, das heißt, um Euch in guter Gesundheit zu erhalten, und dass Ihr ihn nicht für die anderen ausgeben sollt.

      Brief an die Mutter, Istanbul, 20. Juli 1935

       Was Ihr mir über unsere Mutter sagt, gibt mir gewiss zu denken. […] Macht ihr Mut, heitert sie auf, erfüllt ihr alle Wünsche, sodass diese Jahre, die der Herr ihr noch schenkt, voll großen Trostes seien, weil sie sehen kann, wie ihre Kinder sie achten und lieben. Man darf gerne wissen, wie viel die Roncallis auf die Achtung vor ihren Eltern halten, dass sie wissen, dass die Alten im Hause ein großer Segen sind.

      Brief an die Geschwister, Istanbul, 10. Juli 1938

       Mein Opfer, gerade im letzten und heiligsten Augenblick fern zu sein, hat seinen vorweggenommenen Lohn darin gehabt, dass meine liebe Mutter fünfzehn Jahre lang, und zwar jedes Jahr einen ganzen Monat, sich der Gesellschaft ihres Bischof-Sohnes erfreuen durfte. Ein Glück, das sie hoch zu schätzen wusste. Wie sie denn am Ende der Ferien sich zu trösten pflegte: ›Was sollen denn wir hier auf dem Lande mit einem Bischof? Man müsste sagen, wenn er nicht abreist, dass da etwas dahintersteckt.‹ Während ich daran denke und das niederschreibe, kommen mir wieder die Tränen, aber in Gedanken an sie, an ihre Einfachheit und Güte und an ihren mütterlichen Schutz vom Himmel herab verleihen sie mir Kraft und Trost zu meiner Arbeit.

      Brief Roncallis an einen Bekannten über seine Abwesenheit beim Sterben der Mutter, Istanbul, 6. März 1939