Im Juni 2006 tat sich ein großer Spalt in einem Felsabbruch an der Ostflanke des Eigers oberhalb des Grindelwaldgletschers auf. Der Riss vergrößerte sich rasch und ein Teil der Wand löste sich vom Berg. Am 13. Juli stürzten 600.000 Kubikmeter Fels auf den darunter liegenden Rest des Gletschers. Der zurückweichende Grindelwaldgletscher hatte den Felswänden ihre Stabilität genommen. Früher fixierten die Eismassen die Felspartien als eine Art Widerlager. Durch den Rückzug des Eises kommt es zu einer „Entspannung im Fels und Druckentlastungsklüfte tun sich auf“, erklärt Gletscherforscher Wilfried Haeberli.12 In die Risse eindringendes Schmelz- und Regenwasser kann das Gestein sprengen, wenn es wieder friert.
Mit Vor-Ort-Messungen, Fernerkundungstechniken und Modellrechnungen haben Michael Zemp, Wilfried Haeberli und ihre Kollegen von der Universität Zürich die jüngere Geschichte und die Zukunft der Alpengletscher analysiert. Ihre Berechnungen haben ergeben, dass die Alpen bis zum Ende des Jahrhunderts fast völlig eisfrei sein könnten.13 Eine durchschnittliche Erwärmung der Sommertemperaturen um drei Grad könnte die heute noch bestehende alpine Gletscherdecke bis auf 10 Prozent der Gletscherausdehnung von 1850 reduzieren. Bei einer Temperaturerhöhung von fünf Grad würden die Alpen fast vollständig eisfrei sein. Nur jenseits der 4000-Meter-Marke könnten Eisreste der zunehmenden Hitze trotzen.
Nachdem 90 Prozent aller Alpengletscher kleiner als einen Quadratkilometer sind, werden die meisten Gletscher in den europäischen Alpen wohl bereits in den kommenden Jahrzehnten verschwinden. Auch kleine Gletscher und Eisfelder können Probleme verursachen, wenn sie sich auflösen: Zieht sich das Eis zurück, legt es große Mengen Schutt frei, die bei starken Niederschlägen als Muren zu Tal gehen können.
UNBERECHENBARER PERMAFROST
In den Alpen gibt es große Mengen Eis, die nicht so sichtbar sind wie die Gletscher: der Permafrost. Darunter versteht man dauerhaft gefrorenen Boden und Gesteinsuntergrund, der nur im Sommer oberflächlich auftaut. Der dauerhafte Frost im Untergrund entsteht, wenn die lokale Lufttemperatur im Jahresmittel unter null Grad bleibt. In kalten Regionen wie Sibirien oder der nordamerikanischen Tundra sind riesige Flächen unterirdisch gefroren. In den Alpen liegen nur bestimmte Gebiete permanent unterhalb des Gefrierpunkts. Permafrost macht Fels- und Schuttpartien im Hochgebirge wasserdicht und erhöht so ihre Stabilität. Dieser andauernd gefrorene Untergrund kann Hunderte Meter tief reichen, vor allem in hohen Bergregionen mit schattigen und kalten Flanken und Felswänden. Doch das große Schmelzen dringt bis tief in das Gestein vor. Der Kitt der Berge taut auf.
Laut Karl Krainer vom Institut für Geologie und Paläontologie an der Universität Innsbruck kann Permafrost in drei Formen auftreten: als Blockgletscher (sich zu Tal bewegende, im Inneren gefrorene Schuttmassen), als Permafrost in Lockergestein und als Permafrost in Festgestein (Spaltenfrost). Blockgletscher sind lappen- oder zungenförmige Gebilde aus Lockergestein, die gletscherähnlich langsam zu Tal kriechen. Allein in Nordtirol gibt es mehr als 500 aktive Blockgletscher. Wenn Spaltenfrost oder Blockgletscher auftauen, gerät das Gestein in Bewegung. Steinschlag, Felsstürze oder Felslawinen können die bedrohliche Folge sein.
Der Hitzesommer 2003 zeigte, was vermutlich im großen Stil auf die Alpen zukommt: Aufgrund von Steinschlag und Bergstürzen mussten Wege und Hütten gesperrt werden. Die Lobbia-Hütte in der italienischen Adamello-Gruppe wurde evakuiert.14 Am 15. Juli 2003 herrschte (wie stets zu dieser Jahreszeit) am Matterhorn Hochbetrieb. Gegen 10.30 Uhr brachen am Hörnligrat etwa 1000 Kubikmeter Fels ab. 84 Bergsteiger mussten von der Bergrettung mit Hubschraubern in Sicherheit gebracht werden. Das Matterhorn wurde gesperrt.15 Auch der Normalweg auf den Mont Blanc war in diesem Extremsommer für Bergsteiger gesperrt, Bergstürze sowie Eis- und Steinschlag waren an der Tagesordnung. Am 7. August kamen vier Personen auf Europas höchstem Berg durch Steinschlag ums Leben, 40 Bergsteiger wurden mit Hubschraubern ausgeflogen. Auftauender Permafrost gefährdete selbst den Gipfel des Hohen Sonnblicks mit dem historischen meteorologischen Observatorium auf 3105 Meter Seehöhe. Durch Auftauprozesse in der Gipfelpyramide verlor der stark zerklüftete Fels an Stabilität und der Gipfel drohte abzustürzen. Mit langen Stahlankern wurde der Berg aufwendig wieder zusammengeschraubt.
Auch schmelzende Blockgletscher steigern ihre Talwärtsbewegung. Die Geografin Isabelle Roer von der Universität Zürich berichtete, dass sich untersuchte Blockgletscher im Engadin zwischen zehn und 50 Zentimeter im Jahresmittel bewegten. „Doch seit den Neunzigerjahren gleiten die Blockgletscher viel schneller zu Tal. Nahe Zermatt sind es inzwischen zweieinhalb Meter pro Jahr. Im Hitzesommer 2003 rückten die Eis- und Schuttströme sogar bis zu sieben Meter vor.“16
Diese Bewegungen können auch Infrastrukturen gefährden. Im Tiroler Kaunertal war man schon mit solchen Problemen konfrontiert, weil dort eine Straße durch einen Blockgletscher gebaut worden war. Starkniederschläge, wie sie durch den Klimawandel vermehrt zu erwarten sind, können diese aufgetauten, labilen Zonen mobilisieren und Muren auslösen. Auch wenn sich Eis- und Blockgletscher meist weit weg von Siedlungen befinden, können Murengänge weit ins Tal vorstoßen.
Forschergruppen aus allen Alpenländern haben nun ein einheitliches Messnetz ins Leben gerufen, mit dessen Hilfe die Temperaturentwicklung des Permafrosts in den Alpen kontinuierlich überwacht werden soll. Für Österreich wurde im Rahmen des Programms permAT17 untersucht, welche Skigebiete, Stauseen und Berghütten von „vorhandenen“ oder „wahrscheinlichen“ Permafrostvorkommen betroffen sein könnten. Dabei hat sich gezeigt, dass besonders die Ötztaler, Stubaier und Tuxer Alpen sowie Teile der Hohen Tauern mit Problemen rechnen müssen.
AUS FÜRS SKIFAHREN UNTER 1200 METER?
Ganze zwei Millimeter Niederschlag fielen im Schweizer Mittelland im gesamten Dezember 2016. Normal sind drei Millimeter – pro Tag. Es war der trockenste Dezember seit Beginn der Messungen im Jahr 1864. Auch in höheren Lagen blieb es ungewöhnlich trocken, obendrein war es dort drei bis vier Grad wärmer als üblich. Viele Skigebiete mussten mit Kunstschnee nachbessern, um wenigstens einen Teil der Pisten befahrbar zu machen.
Eine Studie von Forschern um Christoph Marty vom Schweizer Schnee- und Lawinenforschungszentrum SLF in Davos zeigt18, was in der Alpenregion zu erwarten ist, wenn der Klimaschutz nicht massiv zulegt: Zum Ende des Jahrhunderts könnte es um 70 Prozent weniger Schnee geben (unter 1000 Meter). Das Trend-Szenario (A2) zeigt eine Abnahme der Schneebedeckung von 50 Prozent selbst in Höhen über 3000 Meter. Die am stärksten betroffenen Gebiete liegen unter 1200 Meter, wo die Simulationen fast keinen Schnee gegen Ende des Jahrhunderts mehr zeigen. Für niedrig gelegene Skigebiete könnte es daher sehr eng werden: Zwei von drei Pisten in den bayerischen Alpen liegen niedriger als 1200 Meter, in Österreich befindet sich nur ein Drittel der Skigebiete auf 1500 Meter und höher. Die Simulationen der Schweizer Forscher haben auch ergeben, dass die Schneesaison im Jahr 2035 durchschnittlich um ein bis zwei Monate später beginnen und bis zu einen Monat früher enden wird als derzeit.
In 80 Jahren könnten somit nur mehr Skigebiete über 1800 Meter überleben, für die anderen wird der Winter zu knapp. Der sogenannte „Christmas-Easter-Shift“ (Verschiebung der Saison in Richtung Ostern) wird an Grenzen stoßen: Künftig könnte der Schnee schon im März geschmolzen sein. Die Klimazonen verlagern sich bis 2035 um 200 bis 500 Meter nach oben, bis 2085 um 700 bis 1000 Meter. So viel Schnee, wie heute auf 1200 Meter liegt, wird dann erst in 2000 Meter Höhe zu finden sein. Wenn es der Weltgemeinschaft gelingt, das Zwei-Grad-Klimaschutzziel einzuhalten, was derzeit wenig wahrscheinlich ist, könnte sich der Schneerückgang bei rund minus 30 Prozent zum Ende des Jahrhunderts stabilisieren.
Tourengeher werden deshalb in Zukunft immer weiter hinaufsteigen müssen. Und das birgt neue Gefahren: Lawinen. In den Alpen sterben jetzt schon jährlich mehr als 100 Menschen in Lawinen. 2010 waren es 147. Mit einer weiteren Zunahme ist zu rechnen. Besonders gefährlich