Wenn es um die Beziehung zwischen ökonomischem Wissen und Politik geht, zitieren Experten häufig ein Diktum von John Maynard Keynes aus seinem Hauptwerk Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes: »Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfasste.«11 So elegant seine Prosa auch war, Keynes’ rudimentäre Wissenssoziologie hat sich als falsch erwiesen. Ökonomische Ideen haben nicht etwa, wie in einer gepflegten Séance aus der Zeit der Jahrhundertwende, durch ektoplasmische Schreiben der Verblichenen Eingang in die alltägliche Politik gefunden, sondern durch einen Prozess, der zugleich konkreter und komplexer ist, als die leicht tendenziöse Selbstschmeichelei des Ökonomen Keynes unterstellt.
Wirtschaftslehren erringen die Vorherrschaft, weil sie auf starken geistigen Trends in anderen Bereichen der Kultur und oftmals anderen Disziplinen aufbauen, und sie benötigen ihrerseits Förderer und Finanziers, um Ökonomen und schließlich die breitere Gesellschaft für sich zu gewinnen. Ideen mögen ein Handelsgut sein, aber sie werden nicht einfach vermarktet, auch wenn die Neoliberalen anderes behaupten. So wie die Geschichte sind auch die Ideen von Menschen gemacht, aber nicht in ungebrochener, direkter Weise. Ideen haben die gemeine Angewohnheit, sich auf ihrem Weg durch den Diskursraum zu verwandeln; manchmal schaden ihnen ihre Anhänger mehr als ihre Gegner. Außerdem scheinen Menschen mitunter von Natur aus unfähig zu begreifen, was man ihnen vorsetzt, und kreative Missverständnisse führen das Denken auf ausgetretene Pfade zurück. Im Getümmel dubioser Signifikanten ist die große Lüge König; doch das schließt nicht aus, dass das sie umgebende Stimmengewirr in den Dienst politischer Zwecke gestellt werden kann. Werden bestimmte Grundvorstellungen als neutral und selbstverständlich dargestellt, dann können sie umso besser als politische Bastionen dienen, um die Geschichte in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wenn sich bestimmte Lehrgebäude allen Widrigkeiten zum Trotz, etwa in einer Weltwirtschaftskrise, behaupten; wenn Wissen und Macht in einem Zustand der Erstarrung konvergieren, dann gibt es zweifellos etwas zu erklären.
Träumen Zombies von ewiger Ruhe?
Im gegenwärtigen Alptraum sieht es so aus, dass die ansonsten so zerstörerische Krise auch nicht nur ein einziges ökonomisches Scheinargument ins Jenseits befördern konnte. Das ist keine Neuigkeit: John Quiggin hat dieses Phänomen amüsant Zombie Economics getauft und damit verdienstvollerweise einen wichtigen Aspekt hervorgehoben.12 So feiert zum Beispiel Friedrich Hayeks Der Weg zur Knechtschaft in den USA nach langer Pause ein eigenartiges Comeback als Bestseller, und selbst Ayn Rand wurde offenbar zu neuem (untoten) Leben erweckt. Wie Colin Crouch treffend bemerkt hat: »Was bleibt nach der Finanzkrise vom Neoliberalismus? Die Antwort: so gut wie alles.«13 Unterdessen haben die Verlage eine wahre Flut von Krisenbüchern entfesselt, die zwar nicht als Totgeburten, aber doch als fade Klone aus der Druckerei kommen. Zynisch könnte man sagen: Sollen die Akademiker doch die soziale Katastrophe in eine weitere unnachhaltige Wachstumsindustrie verwandeln. Welchen Sinn sollte das x-te launige Wortspiel mit der Metapher der »unsichtbaren Hand« auf dem Umschlag irgendeines Buches haben, das uns weismachen will, eine Handvoll (meist eine Primzahl) Ereignisse oder Prinzipien sei der Stein der Weisen für das Verständnis der jüngsten Krise?
Es sei dem Leser versichert, dass dies nicht ein weiteres Buch »über die Krise« im Sinne einer ausführlichen Chronologie sein wird. Einige der detailliertesten Darstellungen der Rezession von 2007 bis 2009 finden sich kostenlos im Internet; das Problem scheint eher zu sein, dass niemand mehr genug Interesse daran hat, um sich die Mühe einer Lektüre zu machen.14 Es gibt sogar einen hervorragenden Film, der die Chronologie des Zusammenbruchs mit beeindruckender Klarheit für ein breites Publikum schildert, nämlich den bereits erwähnten Dokumentarfilm Inside Job (2011) von Charles Ferguson, der daran anschließend auch noch das ebenso erhellende Buch Predator Nation vorlegte. Natürlich ist der Film schwach in der Darstellung struktureller Ursachen, er verengt den Blick auf das Finanzwesen, blendet internationale Entwicklungen weitgehend aus und folgt der amerikanischen Unsitte, holzschnittartige Bösewichter an den Pranger zu stellen. Außerdem sind solche Filme selbstverständlich kein Ersatz für gut dokumentierte Untersuchungen über die Veruntreuung von Geldern, die expansive Geldpolitik der Fed, rechtliche Sabotage und andere komplizierte Einzelheiten. Aber es gibt noch ein anderes Problem: Obwohl der Film eine beispiellose Anklage der Ökonomenzunft darstellt, macht er um ihr Gedankengut einen großen Bogen – er misstraut den Wirtschaftswissenschaftlern, ohne zur Wirtschaftswissenschaft Stellung zu beziehen. Das vorliegende Buch soll den Film um diese wesentliche Dimension ergänzen: Es untersucht die Krise als soziale Katastrophe, aber zugleich als geistige Konfusion. Sollte dabei deutlich werden, dass wir unsere Misere auf ein theoretisches Debakel zurückführen können, dann wird die Krise rückblickend betrachtet vielleicht nicht ganz umsonst gewesen sein.
Die Krise dient mir außerdem als Vorwand für eine Untersuchung darüber, wie neoliberale Gedanken ihre linken Gegner behindern und lähmen konnten. Die fortdauernde Krise ist ein politischer Wendepunkt; diese Erkenntnis stets ins Zentrum zu rücken, erweist sich als viel schwieriger, als man annehmen könnte. Mit »der Linken« meine ich nicht die wenigen Umnachteten, die sich als Jünger der Zusammenbruchstheorie gewiss waren, ein vollständiger Kollaps des Kapitalismus werde der politischen Herrschaft des Proletariats den Weg bahnen. Die Geschichte hat es nicht gut mit ihnen gemeint. Ich habe eine andere, breitere Öffentlichkeit vor Augen. Die große Rezession hat Leute, die man früher »Sozialisten« oder »Progressive« genannt hätte, vollkommen überrascht und jede Hoffnung auf Rehabilitierung ihres Wirtschaftsverständnisses zunichte gemacht. Sie hat eine hybride Ordnung hervorgebracht, die jene Linken so verdutzt und fassungslos machte, dass man sie oft laut darüber nachdenken hörte, ob es eine Linke überhaupt noch gibt. An diese Leute, deren Grundüberzeugung lautet, dass Marktstrukturen einer Politik im Interesse des allgemeinen menschlichen Fortschritts untergeordnet werden können und sollen, möchte ich mich hier wenden. Es sind gar nicht wenige, die so denken, doch ihr Verständnis von Märkten und Gesellschaften ist heute leider von theoretischer Verwahrlosung gekennzeichnet.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem eben lobend erwähnten Film Inside Job. Dort heißt es, wie nach der Krise auch andernorts zu hören, die Neoliberalen seien vor allem deshalb für das Desaster verantwortlich, weil sie in kurzsichtiger Manier Märkte dereguliert oder bestehende Regulierungen umgangen hätten. Diese Behauptung habe ich zum Beispiel wiederholt auf der INET-Konferenz und von Leuten in Washington gehört. Gewiss hat es seit den Achtzigerjahren einschneidende Veränderungen der regulierenden Strukturen gegeben, und auf manche werde ich in diesem Buch hinweisen; doch mitnichten handelte es sich dabei um eine schlichte Abschaffung von Regeln, die man wieder einführen könnte oder sollte. Wer die Rede von einer »Deregulierung« akzeptiert, verfängt sich in einem Netz von Begriffen, das das politische Handeln paralysiert. Die Neoliberalen strafen die wohlfeilen Aufrufe ihrer Gegner zur »Reregulierung« mit offener Verachtung, und meines Erachtens ist es Zeit, sie darin wesentlich ernster zu nehmen.15
Der Gedanke eines Allheilmittels namens »Regulierung« zieht etliche ungeprüfte Annahmen über das Wesen von Märkten nach sich. Er befestigt die Dichotomie von Märkten und Gouvernementalität, führt zu Unklarheit über das Verhältnis von Absicht, Wille und spontanen Prozessen und stärkt so auf einer unbewussten Ebene das neoliberale Credo. Darin besteht ein deutliches Symptom der anhaltenden wirtschaftstheoretischen Schwäche der Linken. Wie Heerscharen politischer Theoretiker immer wieder gezeigt haben, zielt das neoliberale Projekt in erster Linie auf Reregulierung und ein neues institutionelles Arrangement – es macht in keinem Fall kurzerhand Tabula rasa zugunsten eines reinen Laissez-faire.16 An diesem Garten