Ich antwortete: »Dann erzähle mir bitte, worum es bei diesen Vereinbarungen geht und was du dabei gedacht bzw. gefühlt hast.«
Sie nannte mir die vier Vereinbarungen der Tolteken:6
»1. Sei tadellos in der Sprache!
2. Nimm nichts persönlich!
3. Ziehe keine voreiligen Schlüsse!
4. Gib dein Bestmögliches!«
Ich fragte sie, woran oder an wen sie dabei dachte und was es für sie hieß. Sie begann zu erzählen, dass sie eine Tendenz dazu habe, immer wieder negativ zu denken, sich bei jeder Gelegenheit die schlimmsten Sachen auszumalen, wie sie sich zurechtspinnen würde, was alles passieren könne. Auf meine Frage, wann oder bei wem sie sich schlimmste Szenarien ausmalen würde, gab sie ziemlich unvermittelt ihre Arbeitsstelle und ihren Sohn an. Bei ihrem Sohn bedrücke es sie besonders. Sie hatte in den Sitzungen davor schon erzählt, wie schlimm es um ihren Sohn bestellt sei. Er hätte keinen richtigen Beruf und keinen richtigen Job. Er arbeite nur ab und zu, verdiene sich etwas Geld, und dann ginge er auf Reisen und sei auf und davon. Er schien dabei glücklich zu sein, doch sie mache sich große Sorgen um ihn. »Was wird aus ihm werden? Wir, mein Mann und ich, haben uns unsere Existenz mühsam unter schlimmeren Umständen aufgebaut … Er hat zwar eine tolle Frau, die auch einen Beruf und eine anständige Arbeitsstelle hat, doch er kann und soll seine Existenz nicht auf ihrem Rücken errichten.«
Johanna erzählte bei dieser Sitzung wiederholt die Geschichte von ihrem Sohn, und es zeigte sich, dass sie ihn einerseits mit ihren Sorgen verurteilte, wegen der Dinge, die er tat bzw. nicht tat, andererseits stellte sie fest, wie glücklich er zu sein schien. Das konnte sie (kognitiv) akzeptieren (er hat eine tolle Frau und sie führen ein glückliches gemeinsames Leben), doch emotional konnte sie es nicht gutheißen.
Die Beziehungen zueinander (Mutter-Sohn, Vater-Mutter-Sohn) wären sehr widersprüchlich deswegen, und sie leide sehr darunter. Das Ganze belaste sie massiv, und wenn sie an die Zukunft der beiden denke, male sie sich die schlimmsten Situationen für beide (den Sohn und seine Frau) aus: »Wenn er nicht bald eine Ausbildung macht oder sie ihn nicht dazu zwingt, eine vernünftige Arbeit zu finden …«
Johanna klagte dann über sich selbst, sie könne bei diesen Gedanken verrückt werden, was ihrem Sohn und seiner Partnerin so alles passieren könne, wenn alles so bliebe wie bisher. Zugleich mache sie sich selbst Vorwürfe, denn sie hasse es, sich in das Leben ihres Sohnes einzumischen und es nicht einfach so stehen lassen zu können. Sie habe es satt, immer wieder den Teufel an die Wand zu malen und sich immer wieder auf die schlimmsten Situationen zu fixieren. Deswegen hätte sie diese erste Vereinbarung für so wichtig gehalten: »Sei tadellos in der Sprache!« Sie fragte sich, warum sie nicht alles positiv deuten oder es in positiven Sätzen ausdrücken konnte. »Warum benutze ich immer wieder eine negative Sprache?«
Alle anderen drei Prinzipien kreisten um das Gleiche. Sie würde dies alles nicht persönlich nehmen wollen, schließlich seien es doch die Angelegenheiten ihres Sohnes und seiner Frau. »Warum mache ich immer wieder die schlimmsten Prophezeiungen für die Zukunft?«, warf sie sich selbst vor. Und schließlich fragte sie sich, was sie tun könne, um da herauszukommen bzw. die schlimmen Ereignisse zu verhindern.
Als Coach fragte ich mich beim Zuhören: »Warum hält sie alles so fest (auch ihren Sohn)? Wovor hat sie Angst? Warum kann sie ihn nicht loslassen? Anders ausgedrückt, wie kann sie ihren Wunsch, ihren Willen, ihre Sehnsucht nach Freiheit, Vertrauen und Wertschätzung, nach Annahme ihres Sohnes erfüllen? Wie kann ich ihr dabei als Coach helfen?«
»Mir scheint«, intervenierte ich, »dass die Botschaften dieser vier Prinzipien bei dir nur kognitiv ankommen. Sie berühren dich irgendwie, doch es scheint dir sehr schwerzufallen, sie auch in die Tat umzusetzen. Du bist jedoch auf der Suche nach Möglichkeiten, sie zu verwirklichen. Ist das so? Stimmt das?«
Sie nickte bejahend und fuhr fort: »Es fällt mir sehr schwer, ihn in seiner Art glücklich sein zu lassen, ihn loszulassen, ihm zu vertrauen, dass er sein Leben zu meistern vermag …«
Ich bemerkte, wie treffend meine Intervention war und wie sie sie schweigsam eine Zeit lang auf sich wirken ließ. Ich begleitete sie dabei, mal mit einem einfühlenden Wort, mit Schweigen, mit Nicken …
Dann sagte sie: »Du wirst es nicht glauben: Nachdem ich dir alles so erzählt habe, haben wir, mein Mann und ich, unseren Sohn und seine Frau vorige Woche besucht und mit ihnen zu Mittag gegessen. Bei der Heimkehr sprachen mein Mann und ich darüber, wie schön es bei ihnen war, wie harmonisch und liebevoll sie miteinander umgehen, mit welcher Gelassenheit und friedlicher Annahme sie sich behandeln, wie ruhig sie beide mit den Schwierigkeiten des Lebens und der eigenen Situation umgehen.« Johanna und (angeblich) auch ihr Ehemann staunten und bewunderten die Art, wie der Sohn und seine Frau das gemeinsame Leben gestalteten. Sie fragten sich, ob sie selbst etwas davon lernen könnten, ob sie vielleicht nicht ständig auf (unbedingte) Sicherheit bedacht sein müssten, und dachten darüber nach, wie sie selbst denken und in bestimmten Lebensvorstellungen haften geblieben waren etc. Dann intervenierte ich erneut und sagte mit lauterer Stimme etwas herausfordernd und mit einer leichten Ironie: »Und das habt ihr ihnen (ihrem Sohn und seiner Frau) auch sofort mitgeteilt, oder?« »Nein«, sagte sie, »das haben wir nur untereinander besprochen.« Dabei lächelte sie, als hätte sie sich selbst erwischt.
Nach einigen Sekunden des Sinken-Lassens schlug ich vor: »Wie wäre es für dich, wenn du deinem Mann und deinem Sohn von diesem Gespräch erzählst und betonst, wie stolz du auf die Art und Weise bist, wie er sein Leben führt?«
Zustimmend sagte sie: »Das mache ich!« Ich schloss die Beratungsstunde mit dem Satz ab: »Tu bitte genau das, er wartet schon lange darauf.«
Einige Tage später schrieb sie mir per WhatsApp Folgendes: »Hallo, Jesus! Wie geht’s dir? Uns geht’s bestens. Ich schicke dir gute Nachrichten: Einen Tag nach unserem Gespräch habe ich mit meinem Sohn Luis geredet. Ich habe ihm gesagt, dass sein Vater und ich sehr gern bei dem Mittagessen bei ihnen gewesen seien. Wie spürbar ihre innerliche Verbundenheit gewesen sei, wie viel Ruhe sie beide ausgestrahlt hätten, wie leicht ihre innere Komplexität wahrzunehmen gewesen sei. Auch sagte ich ihm, wie wir uns von ihnen beiden aufgenommen gefühlt hätten. Ich habe ihn darauf hingewiesen, wie froh mich diese Feststellung machte, sie beide miteinander so glücklich zu sehen, und dass ich sehr stolz darauf sei, wie er sein Leben gestalte …
Er antwortete mir, dass die beiden am selben Tag nach unserem Besuch auch über uns gesprochen und dabei festgestellt hätten, dass wir, mein Mann und ich, entspannt ausgesehen hätten. Sie hatten sogar beobachtet, dass wir unsere Schultern physisch locker fallen gelassen hätten, als ob wir uns gemütlich in einen Sessel hätten fallen lassen.« Johanna schloss ihre Nachricht mit dem Satz: »Wir haben uns mehrmals umarmt.«
Mein Kommentar dazu lautet: Die Mutter ist in der Beziehung von einer Position des Rechthaben-Wollens, des Sicherstellen-Wollens, des Kontrolle-behalten-Wollens, des Leben-festhalten-Wollens, d. h. von einer Position des Wollens, des Habens, der Macht, in eine Position des Seins, der Annahme, der Wertschätzung, des Loslassens und schließlich der Liebe gerückt. Dies ist noch nicht alles, doch der Weg hin zu sich selbst ist bei ihr gebahnt, da sie ihn freigelegt hat.
Von der Liebe zu anderen hin zu der Liebe zu sich selbst
Zwölf Tage später hatten wir ein weiteres virtuelles Treffen. Sie erzählte mir per Skype, dass es ihr viel besser gehe, dass diese Erfahrung mit dem Sohn eine gute gewesen und sie nun viel ruhiger sei. Sie sehe sich jedoch noch nicht in der Lage, wieder zu arbeiten und ihrem Beruf nachzugehen. Auch ihre Psychiaterin meinte, sie (Johanna) wäre noch nicht so weit. Andererseits dürfe sie zu diesem Zeitpunkt sowieso nicht zur Arbeit gehen, denn alle