Der Weg ins Freie. Arthur Schnitzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Schnitzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188415
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oder klug schauten, schienen sich hinter den müd gewordenen Lidern gleichsam für den nächsten Blick auszuruhen.

      »Ich habe Ihre Mutter gekannt, Herr Baron«, sagte er ziemlich leise zu Georg.

      »Meine Mutter, Herr Doktor ...?«

      »Sie werden sich kaum daran erinnern. Sie waren damals ein kleiner Bub von drei, vier Jahren.«

      »Sie waren ihr Arzt?« fragte Georg.

      »Ich besuchte sie zuweilen als Vertreter des Professors Duchegg, bei dem ich Assistent war. Sie haben damals in der Habsburgergasse gewohnt, in einem alten Haus, das längst niedergerissen ist. Ich könnte Ihnen heute noch die Einrichtung des Zimmers schildern, in dem Ihr Herr Vater mich empfing ... der leider auch allzufrüh gestorben ist ... Auf dem Schreibtisch stand eine Bronzefigur und zwar ein gepanzerter Ritter mit einer Fahne. Und an der Wand hing eine Kopie nach einem Van Dyck aus der Liechtensteingalerie.«

      »Ja«, sagte Georg verwundert über das gute Gedächtnis des Arztes, »ganz richtig.«

      »Aber ich habe da die Herrschaften in einem Gespräch unterbrochen«, fuhr Doktor Stauber fort, in dem ein wenig melancholisch singenden und doch überlegenen Ton, der ihm eigen war, und ließ sich in die Ecke des Divans sinken.

      »Eben teilt uns Doktor Berthold zu unserm Erstaunen mit«, sagte Herr Rosner, »daß er sich entschlossen hat, sein Mandat niederzulegen.«

      Der alte Stauber richtete einen ruhigen Blick auf seinen Sohn, den dieser ebenso ruhig erwiderte. Georg, der dies Augenspiel bemerkte, hatte den Eindruck, daß hier ein stilles Einverständnis waltete, das keiner Worte bedurfte.

      »Ja«, sagte Doktor Stauber, »mich hat es allerdings nicht überrascht. Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß Berthold im Parlament nur wie zu Gaste sitzt, und bin eigentlich froh, daß er nun eine Art von Heimweh nach seinem wahren Beruf bekommen hat. Ja, ja, dein wahrer, Berthold«, wiederholte er wie zur Antwort auf ein Stirnrunzeln seines Sohnes. »Damit ist ja nichts für die Zukunft präjudiziert. Nichts erschwert uns die Existenz so sehr, als daß wir so häufig an Definitiva glauben ... und daß wir die Zeit damit verlieren, uns eines Irrtums zu schämen, statt ihn einzugestehen und unser Leben einfach neu zu gestalten.«

      Berthold erklärte, daß er in spätestens acht Tagen abreisen wolle. Jeder weitere Aufschub hätte keinen Sinn. Es wäre auch möglich, daß er nicht in Paris bliebe. Seine Studien konnten eine weitere Reise not wendig machen. Ferner war er entschlossen, alle Abschiedsbesuche zu unterlassen; wie er hinzusetzte, hatte er ohndies allen Verkehr früherer Jahre in gewissen bürgerlichen Kreisen, wo sein Vater eine ausgebreitete Praxis übte, vollkommen aufgegeben.

      »Sind wir uns denn nicht diesen Winter einmal bei Ehrenbergs begegnet?« fragte Georg mit einiger Genugtuung.

      »Das ist richtig«, erwiderte Berthold. »Mit Ehrenbergs sind wir übrigens entfernt verwandt. Das Bindeglied zwischen uns ist merkwürdigerweise die Familie Golowski. Jeder Versuch, Ihnen das näher zu erklären, Herr Baron, wäre vergeblich. Ich müßte sie eine Wanderung durch die Standesämter und Kultusgemeinden von Temesvar, Tarnopol und ähnlichen angenehmen Ortschaften unternehmen lassen und das möcht ich Ihnen doch nicht zumuten.«

      »Und übrigens«, fügte der alte Doktor Stauber resigniert hinzu, »weiß der Herr Baron gewiß, daß alle Juden miteinander verwandt sind.«

      Georg lächelte liebenswürdig. In Wirklichkeit aber war er eher enerviert. Seiner Empfindung nach bestand durchaus keine Notwendigkeit, daß auch der alte Doktor Stauber ihm offizielle Mitteilung von seiner Zugehörigkeit zum Judentum machte. Er wußte es ja, und er nahm es ihm nicht übel. Er nahm es überhaupt keinem übel; aber warum fingen sie denn immer selbst davon zu reden an? Wo er auch hinkam, er begegnete nur Juden, die sich schämten, daß sie Juden waren, oder solchen, die darauf stolz waren, und Angst hatten, man könnte glauben, sie schämten sich.

      »Gestern hab ich übrigens die alte Golowski gesprochen«, fuhr Doktor Stauber fort.

      »Die arme Frau«, sagte Herr Rosner.

      »Wie gehts ihr denn?« fragte Anna.

      »Wie wirds ihr gehen ... Sie können sich denken ... die Tochter eingesperrt, der Sohn Freiwilliger auf Staatskosten, wohnt in der Kaserne ... Stellen Sie sich das vor, Leo Golowski als Patriot ... Und der Alte sitzt im Kaffeehaus und schaut zu, wie die andern Leut Schach spielen. Er selbst hat doch nicht mehr die zehn Kreuzer, um das Spielgeld zu zahlen.«

      »Die Haft von Therese muß übrigens bald abgelaufen sein«, sagte Berthold.

      »Dauert doch noch zwölf, vierzehn Tage«, erwiderte sein Vater ... »Na, Annerl«, wandte er sich dann an das junge Mädchen, »es wäre wirklich schön von Ihnen, wenn Sie sich wieder einmal in der Rembrandtstraße anschauen ließen; die alte Frau hat eine fast rührende Schwärmerei für Sie. Ich versteh wirklich nicht warum«, setzte er lächelnd hinzu, während er Anna beinah zärtlich betrachtete. Sie aber sah vor sich hin und erwiderte nichts.

      Die Wanduhr schlug sieben.

      Georg erhob sich, als wenn er nur dieses Zeichen erwartet hätte.

      »Herr Baron verlassen uns schon«, sagte Herr Rosner aufstehend.

      Georg bat die Anwesenden, sich nicht stören zu lassen, und reichte allen die Hand.

      »Es ist merkwürdig«, sagte der alte Stauber, »wie Ihre Stimme an die Ihres verstorbenen Herrn Vaters erinnert.«

      »Ja, man hat es mir vielfach gesagt«, entgegnete Georg. »Ich selbst konnte es allerdings nie finden.«

      »Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der seine eigene Stimme kennt«, bemerkte der alte Stauber, und es klang wie der Beginn eines populären Vortrags.

      Aber Georg empfahl sich. Anna begleitete ihn, trotz seiner leisen Abwehr, ins Vorzimmer und ließ etwas absichtlich, wie es Georg vorkam die Türe halboffen stehn. »Es ist schade, daß wir nicht länger musizieren konnten«, sagte sie.

      »Mir tuts auch leid, Fräulein Anna.«

      »Das Lied hat mir heut noch besser gefallen, als beim erstenmal, wie ich mich selber begleiten mußte. Nur zum Schluß verläuft es ein bißchen ... ich weiß nicht, wie ich sagen soll.«

      »Ich weiß, was Sie meinen. Der Schluß ist konventionell, das hab ich gleich gefühlt. Hoffentlich kann ich Ihnen bald was Besseres bringen, Fräulein Anna.«

      »Lassen Sie mich aber nicht zu lange darauf warten.«

      »Gewiß nicht. Also Adieu Fräulein Anna.«

      Sie reichten einander die Hände und lächelten beide.

      »Warum sind Sie nicht nach Weißenfeld gekommen?« fragte Anna leicht.

      »Es tut mir wirklich leid, aber sehen Sie, Fräulein Anna, ich hätte wahrhaftig heuer keine angenehme Gesellschaft vorgestellt, das können Sie sich wohl denken.«

      Anna sah ihn ernst an. »Glauben Sie nicht«, sagte sie, »daß man Ihnen vielleicht hätte helfen können manches tragen?«

      »Es zieht, Anna«, rief Frau Rosner von drinnen.

      »Ich komm ja schon«, erwiderte Anna etwas ungeduldig. Aber Frau Rosner hatte die Tür schon geschlossen.

      »Wann darf ich wiederkommen?« fragte Georg.

      »Wann es Ihnen angenehm ist. Allerdings ... ich müßte Ihnen eigentlich eine schriftliche Stundeneinteilung geben, damit Sie wissen, wann ich zu Hause bin, und damit wäre auch noch nichts getan. Oft geh ich spazieren, oder habe Besorgungen in der Stadt, oder schau mir Bilder an, oder Ausstellungen ...«

      »Das könnte man doch einmal zusammen tun«, sagte Georg.

      »O ja«, erwiderte Anna, nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche und entnahm diesem ein winziges Notizbuch.

      »Was haben Sie denn da?« fragte Georg.

      Anna lächelte und blätterte in dem Büchlein. »Warten Sie nur ... Donnerstag elf Uhr wollte ich mir die Miniaturausstellung