»Nun, Doktor, sagte der Konsul, Sie stehen jetzt hier am Anfange einer Bewegung, die die politischen Verhältnisse Esthlands, Livlands und Kurlands wesentlich umgestalten wird. Die esthländischen Zeitungen weisen mit allem Zauber ihrer arischen Mundart deutlich genug darauf hin.
– Diese Entwicklung der Dinge wird nur schrittweise vor sich gehen, erwiderte der Arzt, es wird aber keineswegs zu zeitig sein, wenn die Verwaltung und das Stadtregiment den deutschen Körperschaften entwunden sein werden. Ist's denn kein unbegreiflicher Zustand, daß noch immer die Deutschen die politische Führung unserer Provinzen in der Hand haben?
– Ja… leider; doch wenn das auch nicht mehr der Fall ist, bemerkte Ilka, bleiben sie wahrscheinlich allmächtig durch die Macht des Geldes, da sie fast allein den Grund und Boden besitzen und wichtige Stellungen innehaben.
– Die Stellen, meinte Delaporte, könnte man ihnen ja nehmen; bezüglich des Grundbesitzes dürfte das schwieriger, wenn nicht unmöglich sein. In Livland allein sind die Deutschen die Eigentümer des größten Teiles alles Ackerlandes… mindestens einer Bodenfläche von viermalhunderttausend Hektaren.«
Das ist tatsächlich richtig. In den baltischen Provinzen sind die Edelleute, die Vornehmen so gut wie die Kleinbürger und die Kaufleute, fast ohne Ausnahme teutonischen Stammes. Doch obwohl die übrige Bevölkerung die Religion dieser ursprünglich katholischen und später protestantischen Deutschen angenommen hat, kann von deren Germanisierung eigentlich nicht die Rede sein. Die Esthen, das Brudervolk der Finnen, und die fast alle als Ackerbauer lebenden Letten verbergen in keiner Weise ihren Rassenhaß gegen die, die ihre Herren sind, und in Reval, Dorpat und St. Petersburg treten viele Zeitungen warm für ihre Rechte ein.
»Bei einem Kampfe zwischen den Russen slawischen und denen deutschen Ursprungs, fuhr der Konsul fort, weiß ich freilich nicht recht, wer zuletzt siegen wird.
– Überlassen wir das dem Kaiser, antwortete Doktor Hamine, der ist ein Vollblutslawe und wird das fremde Element in unseren Provinzen schon zurückzudrängen wissen.
– O, möchte ihm das gelingen! fiel das junge Mädchen mit ernster Stimme ein. Seit sieben Jahrhunderten, seit der Eroberung, haben unsere Bauern, unsere Arbeit dem Einfluß der Sieger Widerstand geleistet, und diese sind eigentlich außerhalb des Landes geblieben!
– Und dein Vater, liebe Ilka, hat jedenfalls tapfer für unsere Sache gekämpft; er steht mit vollem Rechte an der Spitze der slawischen Partei…
– Hat sich deshalb aber auch recht schlimme Feinde erworben! meinte Delaporte.
– Ja freilich, antwortete der Arzt, unter anderen die Brüder Johausen, die reichen Bankiers, die vor Wut bersten werden, sobald Dimitri Nicolef ihnen die Leitung des Rigaer Gemeinwesens abgerungen hat. Übrigens zählt unsere Stadt nur vierundvierzigtausend Deutsche gegen sechsundzwanzigtausend Russen und vierundzwanzigtausend Letten. Die Slawen sind also in der Mehrheit und sie werden für Nicolef eintreten.
– Einen solchen Ehrgeiz hegt mein Vater nicht, bemerkte Ilka hierzu. Falls die Slawen ihn mit sich fortreißen, wenn sie die Herren in ihrem Lande wären…
– Das werden sie schon nach den nächsten Wahlen sein, Fräulein Ilka, versicherte Delaporte, und wenn Dimitri Nicolef zustimmt, als Kandidat aufgestellt zu werden…
– Ach nein, das wäre eine zu schwere Last für meinen Vater, der sich in so bescheidener Lage befindet, erwiderte darauf das junge Mädchen. Außerdem wissen Sie ja, lieber Herr Doktor, daß Riga trotz jenes Zahlenverhältnisses weit mehr eine deutsche als eine russische Stadt ist.
– Lassen wir der Dwina ihren Lauf! rief der Arzt. Die alten Gewohnheiten werden mit der Strömung hinuntergleiten und neue Ideen diesen entgegen herauskommen… dann aber, dann wird auch mein wackerer Dimitri davon mit fortgetragen werden.
– Ich danke Ihnen, lieber Herr Doktor, und auch Ihnen, Herr Delaporte, für die wohlwollende Gesinnung gegen meinen guten Vater, doch heißt es hierin vorsichtig zu sein… Haben Sie nicht selbst bemerkt, daß er immer trauriger wird? Das beunruhigt mich nicht wenig!«
Nicolefs Freunde hatten in der Tat dasselbe beobachtet. Seit einiger Zeit schien der brave Mann von trüben Ahnungen erfüllt zu sein. Bei seiner Verschlossenheit sprach er sich darüber jedoch gegen niemand, gegen seine Kinder ebensowenig aus, wie gegen den alten, treuen Hamine. Er stürzte sich nur noch mehr in die Arbeit, in die eifrigste Arbeit, wohl in der Hoffnung, durch diese alles andere vergessen zu können. Und doch sah die slawische Bevölkerung Rigas in ihm ihren Vertreter, der aus den bevorstehenden Wahlen hervorgehen sollte.
Wir sprechen hier vom Jahre 1876. Der Gedanke, die baltischen Provinzen zu russifizieren, war bereits ein Jahrhundert alt. Katharina II. strebte schon eine durchgreifende nationale Reform an. Die Regierung traf ihre Maßregeln, die deutschen Körperschaften von der Leitung der Dörfer und Städte zu verdrängen. Die Wahl des Landesrates wurde der Gesamtheit der Bürger überlassen, die sich einer gewissen Bildung erfreuten und ein bestimmtes Vermögen oder Einkommen versteuerten. In den baltischen oder Ostsee-Provinzen, die jener Zeit neunzehnhundertachtzigtausend Einwohner zählten – in runden Zahlen: dreihundertsechsundzwanzigtausend in Esthland, eine Million in Livland und sechshundertsechzigtausend in Kurland – war das germanische Element nur durch vierzehntausend Edelleute, siebentausend Kaufleute und Großbürger, nebst fünfundneunzigtausend Kleinbürgern, der Rest waren Juden, im ganzen also durch hundertfünfundfünfzigtausend Seelen vertreten. Es konnte demnach unter Mitwirkung des Gouverneurs und der oberen Verwaltungsbeamten nicht schwierig »sein, eine slawische Mehrheit aufzubringen. Der Kampf galt diesmal der jetzigen städtischen Obrigkeit, deren einflußreichste Mitglieder jene Bankiers Johausen waren, die im Verlaufe unserer Erzählung eine hervorragende Rolle zu spielen berufen sind. –
Hier sei auch noch erwähnt, daß der Lehrer in dem Viertel, oder richtiger: der Vorstadt Rigas, worin die bescheidene Wohnstätte der Familie Nicolefs lag und die schon der Vater des Hausherrn innegehabt hatte, sich der größten Hochachtung erfreute. Freilich siedelten in dieser Vorstadt nicht weniger als achttausend Moskowiter.
Wir wissen schon, wie bescheiden – noch bescheidener als man im allgemeinen annahm – die Vermögenslage Dimitri Nicolefs war. Waren wohl diese Umstände daran schuld, daß Ilka noch nicht verheiratet war, obgleich sie das Alter von vierundzwanzig Jahren erreicht hatte? Ist es in Livland wie anderwärts, wenn man als Vermögen nur seine Schönheit aufweisen kann… wie in den Ländern Westeuropas, wenn die Mitgift eines jungen Mädchens nur aus ihrer Tugendhaftigkeit besteht, selbst dann, wenn diese ihrer Schönheit gleichkommt?… Nein; und vielleicht gerade in den slawischen Gesellschaftskreisen der Provinz ist das Geld keineswegs der hervorragendste Ehestifter.
Es wird dann also nicht wundernehmen, daß sich schon mehrere um Ilkas Hand beworben hatten, weit eher dagegen, daß Dimitri und seine Tochter verschiedene Verbindungen ausgeschlagen hatten, die in jeder Hinsicht ganz passend erschienen.
Das hatte jedoch seinen guten Grund: Seit mehreren Jahren war Ilka mit dem einzigen Sohne Michel Yanofs, eines Slawen und Freundes Dimitri Nicolefs, heimlich verlobt. Beide wohnten in derselben Vorstadt Rigas. Wladimir Yanof, jetzt ein Mann von zweiunddreißig Jahren, war ein talentvoller Rechtsanwalt. Trotz des Altersunterschiedes waren die beiden Kinder sozusagen zusammen aufgewachsen. 1872, vier Jahre vor dem Anfange dieser Erzählung, wo der junge Rechtsanwalt achtundzwanzig und das junge Mädchen zwanzig Jahre zählte, hatte man sich über die Verheiratung Ilkas mit Wladimir Yanof geeinigt und beschlossen, daß die Hochzeit noch im laufenden Jahre stattfinden sollte.
Beide Familien hatten darüber aber Schweigen bewahrt, so strenges Schweigen, daß auch die nächsten Freunde vorläufig nichts davon erfuhren. Als man später eben bereit war, ihnen die nötigen Mitteilungen zu machen, da… wurden alle schönen Pläne aufs schrecklichste vereitelt.
Wladimir